Chakras und Musik

Chakras und Musik

Ein 10-Chakra-System in Verbindung mit Musik und Emotionen – aus einem 800 Jahre alten Text

siehe auch: Die wahre Geschichte der Chakren!


In der Tradition des klassischen Tantra entwickelte sich nicht nur ein einziges, sondern mehrere cakra-Systeme (deutsch: Chakra – gesprochen: „Tschackra“ mit kurzem „a“). In frühen Epochen wurden oft 5-Chakra-Systeme verwendet, korrespondierend mit den fünf Grundelementen des Lebens.

Hareesh: Mein Mentor und Freund Somadeva Vasudeva (zur Zeit der Erstveröffentlichung des Textes an der Universität von Kyōtō) entdeckte ein faszinierendes 10-Chakra-System in einem Text (vermutlich 16. Jhd.) mit dem Namen „A Jewel-mine of [teachings on] Music (Saṅgīta-ratnākara)“ (eine Juwelen-Mine für Lehren hinsichtlich der Musik), geschrieben von jemandem mit Namen Śārngadeva. {{Der Text des Sangīta Ratnakāra ist seit langem als Übersetzung von Prem Lata Sharma bekannt  (* siehe bitte auch Richtigstellung am Ende des Textes)}}.  Dies ist einer der wenigen mir bekannten Sanskrit-Text, der bestimmte emotionale und mentale Zustände (bhāvas) mit spezifischen Chakras in Verbindung bringt, genauer gesagt, mit deren Blütenblättern. Zusätzliche Kommentare wurden aus dem Sanskrit durch Siṃhabhūpāla übersetzt. Zu beachten ist, dass dieses Chakra-System nicht für den genannten Text über musikalisches Können „erfunden“ wurde, sondern aus yogischen Quellen stammt, die heute nicht mehr verfügbar sind. 

Es folgen einige kurze Auszüge aus dem von Dr. Vasudeva übersetzten Text (mit kleinen Änderungen durch mich, Hareesh). Bitte nimm zur Kenntnis, dass ein vollständiges Verständnis dieser Inhalte nur durch die sorgfältige Literatur der Kommentare von Kallinātha und Siṃhabhūpāla möglich ist, beide sind hier nicht aufgeführt. Die ersten fünf von zehn Chakras dieses Systems werden an derselben Stelle verortet wie im 7-Chakra-System welches im Westen bekannt ist, und sie tragen dieselben Namen.


CHAKRA #1. ādhāra — „Das ādhāra-cakra liegt zwischen Anus und Genitalien. Es hat vier Blütenblätter. Diese Blütenblätter sind so angeordnet, dass sie bei einem Kompass zwischen den Richtungsnadeln liegen würden. Ihnen werden vier Glückseligkeiten (bliss bzw. ānanda) zugeordnet: [1] höchste Glückseligkeit – Nord-Ost, [2] innewohnende Glückseligkeit – Süd-Ost, [3] heldenhafte Glückseligkeit – Süd-West, und [4] verbindende Glückseligkeit – Nord-West. Diese Lotus-Struktur ist die Heimstatt von Kuṇḍalinī. Ihr Aufstieg zur Krone des Kopfes schenkt Befreiung (liberation).“

CHAKRA #2. svādhiṣṭhāna — „An der ,Wurzel‘ (Basis) der Genitalien liegt das sechs-blättrige svādhiṣṭhāna-cakra (Kallinātha präzisiert hier, dass es etwa sechs fingerbreit oberhalb des ādhāra-cakra liegt). In seinen Blütenblättern, beginnend im Osten (subjektiv betrachtet vorne), findet man: [1] Bescheidenheit, [2] Grausamkeit/Härte, [3] Zerstörung von Stolz, [4] Benommenheit, [5] Nichtachtung, und [6] Misstrauen. [Siṃhabhūpāla erklärt: Wenn die Seele in dem jeweiligen Blütenblatt ruht, nimmt sie dessen Zustand an]. Dieses Chakra ist Wohnsitz der Kraft der Verblendung.“

CHAKRA #3. maṇipūraka — „In der Nabel[-region] befindet sich ein 10-blättriges cakra genannt maṇipūraka. In seinen Blütenblättern, von Osten ausgehend, zeigen sich [1] tiefer Schlaf, [2] Verlangen, [3] Neid, [4] Verleumdung, [5] Scham, [6] Angst, [7] Mitgefühl, [8] Stumpfsinn/Starrheit, [9] Degeneration, und [10] Depression. Es ist der Sitz der Sonne. [Siṃhabhūpāla identifiziert dies als eine spezifische, vitale Energy (prāṇa) genannt ,Sonne‘ (sūrya).]“

CHAKRA #4. anāhata — „In der Herz[-region] befindet sich das anāhata-cakra. Dies ist der Ort, an dem Śiva in Form von ‚Praṇava Oṃ‘ gehuldigt wird. Es hat zwölf Blütenblätter. Verweilt man in ihnen, so zeigen sich (beginnend im Osten/vorne): [1] Zerstörung von Unsicherheit, [2] klare Argumentation, [3] Reue, [4] Erwartungen, [5] Transparenz [oder Abwesenheit von Vortäuschung], [6] Sorge, [7] Streben, [8] Gleichmut, [9] Scheinheiligkeit, [10] Instabilität, [11] Urteilsvermögen, und [12] Mut [oder Glaube an sich selbst].“

Für die Chakras #1-3  gilt, dass keine der bhāvas (mental-emotionale Zustände) für Yogī-Musiker kultiviert werden sollen. Indessen sollten die Qualitäten der Blütenblätter #1, 8, 11, and 12 im vierten Chakra ausgebildet werden. Es wird gesagt, dass die natürlichen Fähigkeiten von SängerInnen zerstört werden, falls sie in der Qualität der Blätter #4, 6, oder 10 verharren.

CHAKRA #5. viśuddhi — „In der Kehle[-region] befindet sich das sechzehn-blättrige viśuddhi-cakra, dies ist der Sitz von Sarasvatī (Göttin der Sprache, Musik und des Lernens). [Siṃhabhūpāla: wird die Göttin der Sprache hier verehrt, schenkt sie Perfektion der Rede]. Verweilt die Seele in den 16 Blütenblättern, erwächst folgender Lohn (beginnend im Osten/Vorderseite): [1] Praṇava(Oṃ), [2] Udgītha chant, [3] huṃphaṭ Mantra, [4] vaṣaṭ Mantra, [5] svadhā Mantra, den Vorfahren (pitṛ) angeboten, [6] svāhā Mantra, den Göttern angeboten, [7] namaḥ, ein Wort des Grußes, [8] Nektar [erquickende Freude], [9] die sieben Noten der Musik, beginnend mit ṣaḍja, [10] der Bulle (von Lord Shiva), [11] gāndhāra, [12] madhyama, [13] pañcama, [14] dhaivata, [15] niṣāda, [16] Gift [vergiftendes Leid].“
Es wird gesagt, dass die Blütenblätter #8-15 von Musikern gepflegt und kultiviert werden sollen. 

CHAKRA #6. lalanā-cakra. „In der Gaumenzäpfchen[-region] befindet sich das zwölf-blättrige lalanā-cakra. In seinen Blütenblättern finden sich die folgenden Früchte, beginnend im Osten (Vorderseite): [1] Berauschtheit, [2] Arroganz, [3] Hinwendung, [4] Trauer, [5] Not [Siṃhabhūpāla: „Leiden aus unbekannten Ursachen“], [6] Gier, [7] Desillusionierung, [8] Unrast, [9] Die „Welle“ [Siṃhabhūpāla: „Die sechs Wellen existieren in: dem Lebensatem (prāṇa), dem Geist (mind, buddhi)und im Körper (deha): Hunger und Durst, Gier und Trug, Alter und Tod“], [10] Vertrauen, [11] Zufriedenheit, und [12] Respekt/Wertschätzung.“

„Im lalanā-cakra verleihen das zehnte [Vertrauen] und elfte [Zufriedenheit] Blütenblatt einem Musiker Meisterschaft, das erste [Rausch], vierte [Trauer] und fünfte [Leid] werden von Experten in der yogischen Wissenschaft als destruktiv erachtet.“

CHAKRA #7. ājñā-cakra. „[In der Region] zwischen den Augenbrauen liegt das drei-blättrige ājñā-cakra. Lohn sind die Manifestierungen [der drei guṇas]: [1] sattva, [2] rajas, und [3] tamas.“

CHAKRA #8. manaś-cakra. „Danach folgt das sechs-blättrige manaś-cakra, seine Früchte sind [die Beherrschung/Meisterschaft von]: [1] Traum, [2] Genuss von Aromen, [3] Geruchs-Sinneswahrnehmung, [4] optische Wahrnehmung, [5] Wahrnehmung von Berührung, [6] akustisches Erkennen.“

CHAKRA #9. soma-cakra. „Darüber liegt das sechzehn-blättrige soma-cakra. Auf seinen Blütenblättern befinden sich die sechzehn kalās (,Kräfte, Mächte, Stellen, sechzehnte, Teile, Aspekte‘). Die Seele erlangt [die folgenden] Belohnungen, wenn sie Fortschritte mit diesen Blütenblättern macht, beginnend im Osten (Vorderseite): [1] Mitgefühl, [2] Langmut, [3] Integrität, [4] innere Stärke, [5] Leidenschaftslosigkeit, [6] Beständigkeit, [7] Freude, [8] Heiterkeit, [9] Begeisterung, [10] Tränen (der Freude) in der Meditation, [11] Stabilität, [12] Einfluss/Bedeutung, [13] Fleiß, [14] Klarheit des Geistes, [15] Großzügigkeit, [16] Geradlinigkeit (single-pointedness).“
Beachte, dass vieles den Yamas & Niyamas in der Śāradā-tilaka entspricht.

CHAKRA #10. sahasrapatra-cakra. „In der Öffnung des Schädels findet sich ein tausend-blättriger, Nektar-bringender Lotus. Er nährt den Körper mit strömendem Nektar … Die Seele, die sich in der ‚Krone des Kopfes‘ befindet, wird mit Nektar überströmt, ist zufrieden und kann sich in der Musik hervortun.“

Dr. Vasudeva, der diese Passage übersetzt hat, fügt hinzu:

„Musiker mögen sich zu Recht fragen, warum Śārṅgadeva in solcher Länge in einem musikwissenschaftlichen Werk auf die esoterische Physiologie eingeht. Die Antwort findet sich in den folgenden Versen: Nur wenn die Seele in einigen bestimmten Blütenblättern (petals/kalās) residiert, kann Musik gemeistert werden. Einige Blütenblätter schaden der Musik, andere sind in dieser Hinsicht unbeteiligt.“

Quelle: Die ‚Beschreibung‘ der cakras aus der Saṃgīta-ratnākaravon Śārṅgadeva, bearbeitete Version von Pandit S. Subrahmanya Sastri, überarbeitet durch Smt. S. Sarada, Adyar Library and Research Centre, Madras, zweite Auflage 1992. 


Update Januar 2020 – eine Anmerkung und Richtigstellung von Patricia Jo und Hareesh

Patricia Jo: Der Text des Sangīta Ratnakāra ist seit langem als Uebersetzung von Prem Lata Sharma bekannt – ihn als Entdeckung zu bezeichnen ist deshalb vielleicht etwas drastisch formuliert. Somadeva Vasudeva arbeitet bestimmt (und Gott sei Dank) an einer neuen textkritischen Ausgabe. Der Verfasser, Śrāngadeva, stammt ja auch aus dem kashmirischen Kontext und ist deshalb natürlich für alle, die sich mit Abhinavagupta beschäftigen, wichtig und wertvoll. Zudem steckt im Text ein Fundus an ayurvedischem Wissen. Interessant für alle Yogalehrenden (auch die prenatalen Erkenntnisse). Trika Philosophie erkennt die Ästhetik als eine essentiell wichtige Komponente des Lebens an. Darum ist sie – vor allem im indischen Kontext oft unmittelbar an die Künste geknuüpft (man denke nur an die Verbindung: Abhinavabharati-Natyashastra). Aber auch in der Praxis: Im Dhrupad – und hier nennen ich speziell die Dagar Gharana und als Vertreter zB Nirmalya Dey – weiss um den Text und lehrt und praktiziert ihn aktiv. Kann ich nur empfehlen wenn man seine Praxis vertiefen möchte.
Deshalb wuerde ich die im Artikel beschriebenen Erkenntnisse nicht als neu bezeichnen, wohl aber als langersehnte Anerkennung des Westen von indischer Musikologie und Philosophie. Ich finde es wichtig, im Sinne eines gleichwertigen Dialoges zwischen Indien und dem Westen, den Entdecker’kredit’ bei Prem Lata Sharma zu lassen.

Christopher Wallis: 
–> sinngemäß auf deutsch: danke Dir, Patrizia, das war in der Tat ein Fehler, wenn auch unbeabsichtigt. Als ich den Original Blog Post vor einigen Jahren geschrieben habe, kannte ich die Sharma Edition noch nicht. Ich bin davon ausgegangen, das Somadeva den Text erst kürzlich entdeckt hatte. Somit waren meine Informationen unvollständig, dennoch wollte ich die Aufmerksamkeit auf diesen Text lenken den ich seinerzeit sehr aufschlussreich fand.


Link zum englischen Original Teil 1 von 2: 14.06.2015
Link zum englischen Original Teil 2 von 2: 20.06.2015
© Christopher D. Wallis (Hareesh)

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 01.2020 von: Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA und Anusara Elements · Lektorat: Larisa Snjegota


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Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA