Naher Feind #13: Energie-Heilung

Naher Feind #13: Energie-Heilung

Ein profitables Business

Der Markt für die „Heilungs-Industrie“ boomt und ihre Gewinne schießen in die Höhe. Ich (Hareesh) setze das Wort „Heilung“ absichtlich in Anführungsstrichezeiche, denn ich spreche nicht von der tatsächlichen Heilung geistiger und körperlicher Krankheiten durch wenn auch unzureichend, aber dennoch gut geprüfte und gut regulierte Modalitäten (wie allopathische Medizin, physikalische Therapie, Psychotherapie, somatische Therapien usw.). Ich beziehe mich auf die zahllosen Formen der sogenannten „Energie-Heilung/-Medizin“, die eine millionenschwere Industrie bilden, aber bisher keine zwingenden Beweise für eine nachweisliche und wiederholbare Wirksamkeit aufweisen können. Und dennoch behaupten manche Anbieter solcher alternativen Heilmethoden, sie wären in der Lage, eine Vielzahl von realen (und eingebildeten) Problemen von Körper und Geist zu lösen.

Alle diese Begriffe laufen auf eine einfache Behauptung hinaus: Einige besonders begabte Menschen können ein der Wissenschaft unbekanntes Energiefeld spüren und manipulieren, das den menschlichen Körper durch einen unbekannten Mechanismus durchdringt und beeinflusst. Anders gesagt, sie können eine einzigartige, der Wissenschaft unbekannte Art von Energie kanalisieren, die reale Wirkungen erzielen kann. Diese Behauptungen laufen darauf hinaus, dass Magie funktioniert, wobei Magie ein Wort für einen Bereich ist, der von der Wissenschaft nicht berührt wird (und möglicherweise auch nicht berührbar ist). Wir können diese magischen Behauptungen zurückweisen, denn alles, was beständig funktioniert, selbst wenn es nur in 5 % der Fälle der Fall ist, kann durch sorgfältig konzipierte Tests nachgewiesen werden, auch wenn wir noch nicht verstehen, wie es funktioniert. Das heißt, die wissenschaftliche Gemeinschaft ist offen für und interessiert am Nachweis jeder konsistenten Wirkung, insbesondere von Wirkungen, die nicht verstanden werden und daher wahrscheinlich Forschungsgelder anziehen. Unser System ist so konzipiert, dass, wenn irgendeine Form der „Energieheilung“ durchgängig wirksam wäre, wir das bereits wüssten und es Anreize gäbe, herauszufinden, warum.

Weder sehe ich wissenschaftliche Methoden als dogmatisch an und gehe davon aus, dass sie alles erklären können, noch behaupte ich, dass wir mit Sicherheit wissen können, dass Energieheilung niemals funktioniert! Ich will damit nur sagen, dass Magie (oder wie auch immer du das nennen willst), wenn sie denn existiert, nicht beständig oder vorhersehbar funktioniert. Daher täuschen diejenigen, die bestimmte Behauptungen über die Wirksamkeit irgendeiner Form von Energieheilung aufstellen, sich selbst und andere. Und wenn sie jeder:m Klienten den gleichen Preis in Rechnung stellen, dann impliziert das die Behauptung einer beständigen Wirksamkeit, die tatsächlich nicht wahr ist.

Keine dieser Tatsachen schließt die Möglichkeit aus, dass es Ausnahmen gibt – Praktizierende, die bei ihren Klienten konsistente, messbare Ergebnisse erzielen, selbst mit völlig mysteriösen Mitteln. Wir können nur mit Gewissheit sagen, dass das so selten der Fall ist, dass sie im Vergleich mit dem Durchschnitt der Praktizierenden keine statistisch signifikanten Ergebnisse erzielen.

Woher kommt der Erfolg?

Warum gibt es dann diese Energieheiler:innen und alternativen Wellness-Praktiker überall, in jeder größeren Ortschaft und Stadt? Liegt es daran, dass die Allgemeinheit so erbärmlich leichtgläubig, so ungebildet und so verzweifelt ist? Ich würde sagen, nein, das ist nicht der Grund. Die breite Öffentlichkeit in den USA und im Vereinigten Königreich (und auch in Europa) hat die Nase voll von den Beschränkungen eines veralteten Gesundheitssystems, das sich größtenteils nur mit extremen und gut erforschten Krankheiten befassen kann und keine Zeit für schwer zu diagnostizierende und nicht sichtbar schwächende Krankheiten hat. Aber wir müssen noch tiefer graben, um zu verstehen, warum die verschiedenen Formen der „Energieheilung“ florieren.

Ich behaupte, dass viele chronische körperliche Erkrankungen somatisch sind, das heißt, dass sie entweder durch ungelöste und weitgehend unbewusste psychologische Probleme verursacht oder (häufiger) stark verschlimmert werden, wahrscheinlich in der Art und Weise, wie sie von Dr. John Sarno und seinen Mitarbeitern in dem Buch The Divided Mind beschrieben werden. Aber unser Verständnis davon, wie sich die Psyche auf die körperliche Gesundheit und chronische Schmerzen auswirkt, steckt noch in den Kinderschuhen, so dass es für konservativere Wissenschaftler ein Leichtes ist, dieses und andere Bücher zu kritisieren, obwohl ich davon überzeugt bin, dass sich ihre grundlegenden Ideen als richtig erweisen werden.

Zunächst ist zu bedenken, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen, die größtenteils somatischer Natur sind, bei jeder Form von längerem Kontakt mit einer sympathischen und fürsorglichen Person, auch ohne körperliche Berührung, wahrscheinlich eine symptomatische Linderung verspüren. Diese kann durch einen Placebo-Effekt erheblich verstärkt werden, was natürlich teilweise davon abhängt, dass der Patient die Pflegeperson als kompetent und qualifiziert wahrnimmt. Daher kann eine Person mit praktisch jeder Art von chronischem Leiden durch etwas wie Therapeutic Touch, Reiki oder Akupunktur eine signifikante Linderung der Symptome erfahren, wenn sie ein gutes Verhältnis zu dem Behandler hat und glaubt, dass die Behandlung wahrscheinlich wirksam sein wird. Das heißt, dass die menschliche Verbindung und die sympathische menschliche Präsenz für einen Großteil des realen Nutzens des Placebo-Effekts verantwortlich sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Placebo-Effekt entgegen der landläufigen Meinung sehr oft real und nicht eingebildet ist. So kann eine Placebo-Operation (d. h. eine überzeugend vorgetäuschte Operation) bei der Behebung einiger physiologischer Probleme genauso wirksam sein wie eine echte Operation.

Wenn der Praktiker weiß, wie man den nötigen Raum bereitstellt und Fürsorge ausstrahlt, kann er/sie symptomatische Linderung verschaffen, so wie eine Pille körperliche Schmerzen lindern kann (wenn auch durch einen anderen Mechanismus). Das ist großartig, aber es sollte nicht mehr kosten als eine Schmerztablette. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Praktizierende dieser „Energieheilungs“-Disziplinen in sehr seltenen Fällen intuitiv eine tatsächliche Heilung herbeiführen können (was unabhängig von der vermeintlichen Art der Behandlung meist spontan auf Grundlage echter menschlicher Verbundenheit und Kraft dessen, was wir nur Liebe nennen können, geschieht).

Wenn tatsächlich Heilung eintritt, ist der Unterschied zur symptomatischen Linderung erheblich und offensichtlich: Das Leiden oder der Zustand ist nicht mehr vorhanden, er ist geheilt. Bei einer symptomatischen Linderung kann es sich vorübergehend so anfühlen, als sei das Leiden verschwunden, nur um ein paar Stunden oder Tage später mit voller Wucht zurückzukehren. Wenn das passiert und die Person, die du bezahlt hast, sich Heiler nenne, solltest du von Rechts wegen eine Rückerstattung erhalten und einfordern können. Natürlich stellen auch Ärzte manchmal Geld in Rechnung, obwohl sie nichts erreicht haben, und das ist genauso wenig in Ordnung!

Wie wäre es, wenn wir das Wort Heilung für Situationen reservieren würden, in denen nachweislich eine Heilung stattgefunden hat? Wenn du nicht sicher bist, ob eine Heilung stattgefunden hat (nach ein paar Tagen), dann ist dies wahrscheinlich nicht der Fall.

Es sieht also fast so aus, als ob alle Energieheilung ein Schwindel ist. Wie kann sie also ein Beinahe-Feind der Wahrheit sein, die per Definition nahe an einer echten und tiefen Wahrheit ist?

Emotionale Verstopfungen verdauen

Sprechen wir zunächst die Mehrheit derjenigen Menschen an, die glauben, dass sie Heilung brauchen, obwohl dies faktisch nicht der Fall ist. Ich glaube, dass es sich um ein generelles Problem handelt: emotionale Verstopfung. Um dies zu verstehen ist ein wenig Hintergrundwissen nötig. Im klassischen Tantra lernen wir, dass der feinstoffliche Körper (= mental-emotionaler Körper, [oder einfach der Übergang von Psyche und Körper]) Emotionen und Erfahrungen auf vergleichbare Weise verarbeitet, wie der physische Körper Essen verdaut. Er entzieht Energie und setzt Abfallstoffe freis, ohne dass ein Rest übrig bleibt. Da jedoch die meisten Menschen keinerlei Anleitung erhalten haben, wie man am besten mit den eigenen Emotionen umgeht, bleibt eine ganze Menge an emotionalen Erfahrungen (insbesondere die einschneidenden) sozusagen unverdaut übrig. Diese nennen wir samskāras (wörtlich „Eindrücke“), ungelöste Schnipsel vergangener Erfahrungen die irgendwo im subtilen Körper herumlungern, als eine Art Klumpen unverdauter Energien. Auch solche Energien sind Formen von prāṇa, also Lebens-Energie. Es kann sowohl samskāras von angenehmen als auch von schmerzhaften Erfahrungen geben, aber selbst letztere sind nicht per se schlecht für uns; tatsächlich stellen sie eine Quelle potenzieller Energie dar, die durch den Prozess der Verdauung freigesetzt werden kann.

Auch wenn samskāras an sich nicht schlecht sind, hat die Anhäufung vieler samskāras eine erhebliche nachteilige Auswirkung auf unsere Lebenserfahrung insgesamt. In diesem traditionellen yogischen Modell ist die eigene Lebenskraft eine endliche Menge, und jedes samskāra bindet eine bestimmte Menge davon. Je mehr unverdaute Erfahrungen man hat, desto weniger Lebenskraft steht zur Verfügung. Das kann sich in Müdigkeit, Erschöpfung, Langeweile, Teilnahmslosigkeit oder so etwas wie einem Gefühl von Bedeutungslosigkeit oder Sinnlosigkeit zeigen, oder als eine Kombination aus all dem. Darüber hinaus können diese samskāras bei einer Person, die eine kritische Masse an unverdauter schmerzhafter Erfahrung besitzt, sozusagen „vergiften“, was zu Bitterkeit, Trockenheit, Starrheit in Geist und Körper, der Unfähigkeit, Mitgefühl oder Empathie zu empfinden, und/oder anderen Symptomen führen kann.

Um das klarzustellen, spreche ich hier über die „normale“ menschliche Erfahrung in unserer Gesellschaft; ich spreche nicht über die Situation außergewöhnlich traumatisierter Menschen. Aber als Gesellschaft müssen wir anfangen anzuerkennen, dass die „normale“ menschliche Erfahrung im 21. Jahrhundert ein erhebliches chronisches Leiden ist, das um des sozialen Status und der Imagepflege willen so gut wie möglich verborgen wird. Wir sind weit davon entfernt, dass es uns gut geht, aber an sich ist nichts falsch an uns, wir müssen nur lernen, unsere Erfahrungen zu verarbeiten. Viele von uns geben der Ernährung die Schuld für letzteres, aber ich behaupte, dass wir, wenn wir unsere Emotionen verdauen können, auch unsere Nahrung besser verdauen werden, so dass wir uns nicht auf die zwanghaften Formen der selektiven Nahrungsvermeidung einlassen müssen, die heute immer häufiger vorkommen. 

In einer gesunden Gesellschaft wäre die emotionale Verdauung ein ganz normaler Teil des Lebens. Jede:r würde verstehen, dass praktisch alles im täglichen Leben ein samskāra einer alten Erfahrung auslösen kann, und das Auslösen eines samskāra ist eine goldene Gelegenheit für die Verdauung, und jede erfolgreiche Verdauung trägt zu unserer Lebendigkeit bei. Und übrigens muss es gar kein samskāra sein, das ausgelöst wird – man kann Emotionen, die mit der gegenwärtigen Situation zusammenhängen, in Echtzeit verdauen, was ebenfalls die Lebendigkeit erhöht und die Ablagerung eines samskāra vermeidet, das später verdaut werden muss. Leider leben wir noch nicht in einer vernünftigen Gesellschaft oder einer emotional gesunden Welt. Die meisten Menschen wissen nicht, wie sie ihre herausfordernden Emotionen und Erfahrungen verdauen sollen, also neigen sie dazu, sie bei anderen abzuladen – durch Schuldzuweisungen, Beschämung, emotionales Abladen usw. – oder sie unterdrücken sie und schieben sie in sich hinein, wo sie langsam vergiften. Wenn du außerdem glaubst, dass andere an deinen Gefühlen schuld sind, hemmt das die Verdauung und macht es wahrscheinlicher, dass du versuchst, diese anderen dazu zu bringen, deine emotionale Arbeit für dich zu übernehmen.

Emotionale Verdauung geschieht relativ leicht und ganz natürlich, indem:

  • du übernimmst die Verantwortung für deine Gefühle (ohne andere oder dich selbst zu beschuldigen);
  • du hast dir selbst gegenüber genug Wertschätzung, um dir jeden Tag ein wenig Zeit dafür nehmen, mit dem zu sein was ist;
  • du durchschaust die Geschichten über das, was du fühlst als genau das, was sie sind: Stories oder mentale Konstrukte, die deine Gefühle erklären wollen, und dadurch das illusorische Gefühl von Macht gewinnen. Du erkennst, dass es die notwendige emotionale Verdauung verhindert, wenn du solchen Geschichten Glauben schenkst; und schließlich,
  • du kannst diese Geschichten ablegen und die rohen, unverarbeiteten Gefühle nahe an dich heranlassen und sie in deinem Herzen willkommen heißen (egal, wie „negativ“ dein konditionierter Verstand diese auch beurteilt), während du die Fähigkeit begrüßt, diese zu verdauen.

Heilung ist etwas anderes

Heilung ist etwas ganz anderes als mental-emotionale Verdauung, letztere muss fast täglich stattfinden. Heilung ist dann notwendig, wenn jemand eine physische oder emotionale Wunde hat, die so tief ist, dass sie einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedarf, weil sie sonst lebensbedrohlich werden könnte. (Ich nutze hier das Wort „Wunde“ synonym für ein tiefes und schmerzhaftes samskāra.) Emotionale Wunden werden dann lebensbedrohlich, wenn sie einem die Lebensfreude heraussaugen und Lebenskräfte paralysieren; das kann, aber muss nicht heißen, dass sie auch physisch lebensbedrohlich sind. Jemand mit einem sehr starken Energie-Körper mag in der Lage, sogar tiefe emotionale Wunden selbst zu heilen; aber die meisten Menschen benötigen dazu Hilfe und Unterstützung.

So kann zum Beispiel die Unfähigkeit zur Vergebung gegenüber sich selbst oder einer anderen Person, , den normalen Verdauungsprozess komplett untergraben (in der Regel sind fast alle schmerzhaften zwischenmenschlichen Erfahrungen von beiden Seiten mitverursacht). In diesem Fall braucht es oft einen Therapeuten, der das Verständnis dafür erleichtert, was nötig ist, damit Vergebung möglich wird, und damit auch die Verdauung der Gefühle. Ein anderes Beispiel wäre, wenn jemand bewusst oder unbewusst vor der Intensität der eigenen nicht verdauten Gefühle zurückschreckt. Dann kann ein somatischer Therapeut dabei helfen, einen Zugang zu solchen Gefühlen herzustellen, damit sie fließen können und sich selbst lösen. […] Es kommt darauf an, welche Art von professioneller Hilfe man in Anspruch nimmt, ein Therapeut ist ein ausgebildeter, zertifizierter und lizenzierter Fachmann/Fachfrau.

Oberflächliche emotionale Wunden können oft ohne professionelle Hilfe geheilt werden. Der beste Begleiter für diese Heilungsform ist ein vertrauenswürdiger Freund mit emotionaler Intelligenz. Wenn er oder sie den Raum bereitstellen kann, Zeuge sein kann, dich ohne Verzerrung reflektieren kann, dann kann Heilung geschehen, die alleine manchmal nicht möglich wäre […]. Dazu bedarf es keiner besonderen Technik, es reicht einfach das intuitive Wissen, wie man durch energetische Verbindung etwas gemeinsam fühlt. Aber es macht keinen Sinn, für so etwas Geld auszugeben. Denn zum einen scheint es nur dann zu wirken, wenn bereits eine Verbindung aus Vertrauen und Freundschaft besteht, und zum anderen es gibt keine Garantie dafür, dass es überhaupt wirkt (und es dauert ein paar Tage, um sicher zu sein, dass es gewirkt hat).

[…]

Heiler, Heilung und Energie-Körper

Was passiert im Gegensatz zu solchen natürlichen Prozessen bei den meisten sogenannten „Energie-Heilungen“? Wenn der Anbieter weiß, wie man einen sicheren Raum bereitstellt, und wie man sich mit liebevollem, nicht-urteilendem Gewahrsein auf den anderen fokussiert, so kann dies zu einer Entlastung von Symptomen führen, ebenso wie eine Pille physische Schmerzen lindern kann. Das ist toll, sollte aber auch nicht mehr kosten als eine Schmerz-Pille. Es mag vorkommen, dass jemand auf solche Weise ganz intuitiv Heilung einleitet (hier ist die Methode meist eine Vorübung oder Nebelkerze für etwas, das in der Realität oft ganz spontan passiert). Bei einer Spontanheilung ist der Unterschied zu symptomatischer Erleichterung ganz substanziell und offensichtlich: Die Wunde ist geschlossen, also geheilt. Hingegen fühlt es sich bei einer symptomatischen Linderung so an, als wäre die Wunde verschwunden, nur um ein paar Stunden oder Tage später mit voller Wucht wieder aufzubrechen. […].

Meine diesbezügliche Haltung mag dich schockieren, aber dies ist die einzige Möglichkeit, wie man diese Quacksalber-Industrie stoppen kann. […]

Reservieren wir also das Wort Heilung für Situationen, in denen tatsächlich Heilung im Sinne von „kuriert und genesen“ stattgefunden hat. In diesem Sinne kann (mit ein wenig Glück) auch bei alternativen Heilmethoden manchmal Heilung geschehen.  Aber auch das muss nachvollziehbar sein: Die Wunde sollte fühlbar kleiner sein. Wenn du nach einigen Tagen nicht sicher bist, ob sich etwas verändert hat, so ist das vermutlich eher nicht der Fall. Und ganz sicher solltest du für etwas, das nicht wirkt, außer vielleicht als kurzzeitige symptomatische Erleichterung, auch nichts bezahlen.

Zweifellos werden einige bezahlte „Energie-Heiler“ über meine Analyse aufgebracht sein und alle möglichen Gegenargumente ins Feld führen. Nun denn, ich gehe sogar noch weiter: Ihr seid in einer unregulierten Branche einfach weil es nichts zu regulieren gibt. Keine dieser energie-basierten Heilmethoden (außer Akupunktur) hat nachweisbar größere Erfolge gezeigt als eine vergleichbare therapeutische Placebo-Behandlung.  […] Eine wichtige Rolle bei manch einer kurzzeitigen Linderung hängt oftmals mit der Tatsache zusammen, dass die/der Klient/in einen meditativen Zustand erlangt, der, mit ein bisschen Praxis, auch ohne fremdes Zutun erreichbar wäre.

Nun werden manche darauf hinweisen, dass viele traditionelle Kulturen, darunter auch die tibetanische tantrische Kultur, Formen von spiritueller Heilung lehren. Hier handelt es sich um Modalitäten, in denen eine Schamanen-ähnliche Gestalt danach strebt, bestehende Leiden von Körper oder Geist (wie Malaria oder Schizophrenie) durch magische oder übernatürliche Mittel (und manchmal auch mit Hilfe von Kräutern o.Ä.) zu heilen. Auch wenn ich Traditionalist bin, so bin ich gleichzeitig genug Rationalist um zu behaupten, dass all dies absoluter Hokus-Pokus ist – das sage ich so lange, bis solche Praktiken eine durchgängige und wiederholbare Wirkung zeigen. Mit anderen Worten, wir müssen an traditionelle Behauptungen über magische Wirksamkeit denselben kritischen Maßstab anlegen wie an moderne.

Aber sind Praktiken des Energie-Körpers nicht Bestandteil von tantrischem Yoga? Ja, in der Tat. Der große Unterschied besteht darin, dass hier keinerlei unverantwortliche Heils-Versprechungen gemacht werden. Ich lehre jedenfalls nicht, dass die Energie-Körper-Praktiken des traditionellen Tantrik-Yoga dieses oder jenes Ergebnis bewirken. Ich lade dazu ein, diese Sachen auszuprobieren und für sich selbst herauszufinden, wie sie wirken. Denn ich weiß, dass jede Praxis von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausfallen kann. Was für den einen ganz wunderbar funktioniert, ist für jemand anderen komplett unbrauchbar. Außerdem möchte ich den Effekt des „Priming“ [Bahnung – vorbereitende Beeinflussung einer Reaktion auf einen bestimmten Reiz] so gut wie möglich ausschließen. Wenn also jemand auf eine bestimmte Erfahrung sozusagen vorprogrammiert wird, und diese dann erleben möchte, stellt er sich genau das einfach nur vor, anstatt es wirklich zu erleben, und das wird keinen nachhaltigen Einfluss haben […].

Die Absicht von Tantrik Yoga hingegen ist es, überhaupt keine besondere Erfahrung zu machen, sondern eher, einen stetigen, unaufhaltsamen, kraftvollen, eindeutigen Paradigmenwechsel herbeizuführen, der non-konzeptionell ist aber völlig unbestreitbar. Natürlich können in diesem Prozess des Paradigmenwechsels, den wir Erwachen nennen, Momente spontaner emotionaler Verdauung und sogar Momente tiefer Heilung als wundersamer Nebeneffekt auftreten und tun dies auch.


Was sind die nahen Feinde der Wahrheit?

Was sind die „nahen Feinde der Wahrheit“? Ich (Christopher Hareesh Wallis) entleihe diesen Satz aus dem Buddhismus, um mich auf verzerrte Versionen spiritueller Lehren zu beziehen. Auf Aussagen, die wesentlichen und subtilen Wahrheiten ziemlich nahe kommen, aber dennoch knapp daneben liegen, was auf lange Sicht gesehen zu großen Unterschieden führt. Wenn wir von tiefgreifenden und grundlegenden Wahrheiten sprechen, so machen Äußerungen, die „ein bisschen falsch“ sind, kurzfristig betrachtet keinen großen Unterschied, wohl aber auf lange Sicht. So wie eine kleine Kursabweichung deines Bootes auf kurzen Strecken zunächst unerheblich ist, dich aber nach einigen tausend Meilen auf einen anderen Kontinent bringt.

Manche Menschen werden gegen das Wort „falsch“ im letzten Absatz Einspruch erheben. Diese Leute folgen der Idee, dass das einzig notwendige Kriterium für die Wahrheit darin besteht, dass es sich für einen selbst wahr anfühlt. Diese Sichtweise ist in Bezug auf Spiritualität ebenso gefährlich wie in Bezug auf Politik. Denn dahinter steht zumeist: Ich will, dass es wahr ist, also glaube ich es –  egal wie die Fakten sind. Wenn du nicht erkennst, wie brisant dieses Thema ist, oder wenn du zweifelst, ob es überhaupt Fakten oder universelle Wahrheiten gibt, lies bitte die zweite Hälfte des ersten Blogbeitrags (nahe Feinde #1) .

Für jeden spirituellen Sucher ist es enorm wichtig zu erkennen, warum es sich um nahe Feinde handelt, und nicht um die Wahrheit selbst, wenn er/sie über den Status eines Anfängers hinauswachsen will, um tief in die (überaus erfüllende) spirituelle Arbeit einzutauchen. Ich möchte hier noch anfügen, dass ein wirklich „naher“ Feind für einen Anfänger ein Verbündeter auf Zeit sein mag. Aber auf einem höheren/tieferen Level spiritueller Praxis gibt es kein „nahe genug“ mehr. Wenn du deine bequemen und wohlgefälligen Selbstbeteuerungen nicht auf dem Altar der Wahrheit opferst, wird dein Fortschritt stagnieren.


© Christopher Hareesh Wallis, März 2020 · Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 09.2020, überarbeitet Feb. 2022, von: Brigitte Heinz  · Lektorat: D.M.

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