Naher Feind #2: Alles geschieht zum Besten

Naher Feind #2: Alles geschieht zum Besten

Übersetzung aus der Reihe: Nahe Feinde der Wahrheit von:

© Christopher Hareesh Wallis, Juli 30, 2017

Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 02.2020 von: Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA und Anusara Elements · Lektorat: Larisa Snjegota


 

Im letzten Blogbeitrag (Naher Feind #1: Nichts geschieht ohne Grund) haben wir den Grundsatz „Alles geschieht aus einem ganz bestimmten Grund“ angesprochen. Zuweilen wird diese Behauptung verwendet im Sinne von: „Du wirst schon sehen, es wird etwas Gutes dabei herauskommen (z. B. aus diesem schmerzhaften oder herausfordernden Ereignis)“. Dies ist im Grunde genommen eine mildere Variante der heutigen Behauptung: „Alles was passiert, geschieht zum Besten“. Solch eine Prämisse klingt im 21. Jahrhundert ganz offenkundig absurd (angesichts der anhaltenden Unruhen und Kriege). Warum also bezeichne ich diese Behauptung als einen nahen Feind, der per definitionem der Wahrheit recht nahe ist?

Zu Beginn können wir diesen nahen Feind mit einem Lehrsatz aus einem tantrischen Text vergleichen, „nāśivaṃ vidyate kvacit“ (Svacchanda-tantra 4.314)  bedeutet beides, „Nichts existiert, dass nicht Gott ist“, und „Nichts existiert, dass nicht eine Segnung ist“. Der Begriff śiva steht sowohl als Eigenname für Gott, als auch wortwörtlich für „Segen“. Sanskrit unterscheidet nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung, daher sind beide Bedeutungen hier möglich. Allerdings muss man diese Aussage als verbales Kürzel verstehen. Auch wenn aus non-dualer Sichtweise alles Gott ist, bedeutet das ganz sicher nicht, dass wir auch jedes einzelne Ding/Ereignis (oder Gefühl oder Gedanken) als Gott wahrnehmen. Eine derartige (kontinuierliche) Wahrnehmung (der Realität) wäre das Resultat von enormer spiritueller Arbeit. Dasselbe gilt insofern  als – obwohl alles und jedes als Segen erlebt werden kann – wir dies ohne spirituelle Arbeit zumeist nicht als solches erleben können – vor allem, wenn es sich um leidvolle Ereignisse handelt.

Ich möchte es mal so darstellen: Alle Ereignisse enthalten das Potenzial für Segen; je intensiver, desto größer die potenzielle Energie. Was wir „schmerzhaft“ oder „herausfordernd“ nennen, könnte man eher bezeichnen als: „Ereignisse, die der Arbeit bedürfen, um ihre segenbringende Energie zutage zu fördern.“ Stell dir vor, du wärest in der Lage, allen schmerzhaften und/oder herausfordernden Begebenheiten ganz authentisch auf diese Weise zu begegnen. Wenn wir alles, was uns begegnet, nicht als schlecht oder falsch oder unwillkommen wahrnehmen würden, sondern schlichtweg als etwas, das Arbeit erfordert, damit wir Segen daraus ziehen können – wäre dies nicht ein wahrhaftiger Paradigmenwechsel? Diese Formulierung ist sorgfältig gewählt: Es reicht in der Regel nicht, den Segen in einem leidvollen Moment nur zu sehen; denn so etwas ist oftmals lediglich ein konzeptioneller Überzug; wir müssen die innere Arbeit tun. Dann können wir den Segen einer schmerzlichen Situation ganz unmittelbar fühlen und klar sehen bzw. erkennen.

Trösten wir uns selbst, indem wir die Behauptung „Alles geschieht zum Besten“ einfach nur glauben, anstatt die anstehende Arbeit zu verrichten, mag das dazu führen, dass wir uns ein bisschen besser fühlen. Aber auf lange Sicht gesehen, kommt dieses „sich besser fühlen“ einem Hindernis auf dem spirituellen Weg gleich. Wir erfüllen unser wahre innere Arbeit weitaus mehr, wenn wir unseren Schmerz und unser Leid komplett fühlen, ohne Zuckerguss oder Ausweichstrategien.

Wie geht das? Das hängt von der jeweiligen Person und dem Ereignis ab, aber als allgemeine Richtlinie gilt: Zuallererst, nimm sämtliche Emotionen, die durch ein Ereignis hervorgerufen werden, vollständig wahr; schiebe nichts davon fort, weiche nichts aus. Strebe gleichzeitig danach, die damit assoziierten „Stories“ oder mentalen Konstrukte beiseite zu lassen. Geschichten, die als Erklärungsversuche dienen sollen, warum du diese Emotionen erlebst, und wer daran „schuld“ ist. Erlaube den Emotionen, dich zu überfluten, dich zu durchströmen wie ein reißender Strom aus Energie (oder durch dich zu tröpfeln wie ein Energieregen, oder durch dich zu sinken wie ein Stein der durch Morast sinkt, oder was auch immer unmittelbar und authentisch geschieht). Vertrau dich der emotionalen Energie an, ohne dich mit ihr zu identifizieren (ein Selbst daraus zu kreieren). Ist die Kraft des  Stromes versiegt (oder während der Strom fließt), spüre in das Zentrum, den Ruhepol, den inneren Kern deines Seins. Bitte die innere Weisheit, dir die immanente Segnung des Ereignisses zu offenbaren. Sei achtsam, spring nicht gleich zu dem nächstliegenden tröstlichen Gedanken, der vielleicht wahr ist, vielleicht auch nicht. Fühle deinen Weg, sorgsam und ehrlich, natürlich und verletzlich. Lausche auf das, was deine innere Weisheit dir offenbart. Sei so geduldig, als würdest du auf das Erblühen einer wunderschönen Rose warten.

Woran erkennst du, dass deine Arbeit erfolgreich war? Wenn du eine ehrliche Dankbarkeit für das Ereignis empfindest. Du hast die segenbringende Energie eines schlimmen Ereignisses extrahiert, wenn: a) der Schmerz ganz oder überwiegend verdaut/aufgelöst ist, und b) du so tiefe Dankbarkeit erfährst, dass dein Herz überströmt und Tränen deine Augen erfüllen.

„Alles geschieht zum Besten“ ist der nahe Feind zu folgender Wahrheit: „Alles kann zum Besten geschehen – sofern du bereit bist, deine Arbeit zu tun“. Einer meiner Lehrer sagte immer „Möge es ein Segen sein“. Er hatte verstanden, dass alles Mögliche eine Segnung sein kann – und das hängt allein von Dir ab. In diesem Sinne (und nur dann) hat diese Behauptung für eine ganz bestimmte Person, die diese Arbeit getan hat, Gültigkeit. Aber wir sollten dieses schwer zu erreichende Ideal nicht anstreben, ohne die dem zugrunde liegende Lehre zu berücksichtigen:

Alles kann zum Besten geschehen – also tu, was nötig ist, damit es zum Segen wird.

Zahlreiche Beispiele belegen dies. So hat z. B. Viktor Frankl seine Leidenszeit in einem Konzentrationslager als „Segen“ bezeichnet, denn durch diese Erfahrung hat für ihn der Wert des Lebens an sich enorm an Kraft, Bedeutung und Vollkommenheit gewonnen. Christopher Reeve, der einstige Film-Darsteller von Superman, war durch einen Unfall vom Hals an abwärts querschnittsgelähmt. Er bezeichnete dies als Segen, für den er außerordentlich dankbar war. Dieses und weitere Beispiele finden sich in Dan Gilberts herausragendem Buch „Stumbling On Happiness“ (deutsch: Ins Glück stolpern). Solche extremen Beispiele lassen den Gedanken aufkommen, „Wenn diese Leute weitaus schlimmere Umstände als meine eigenen als Segen bezeichnen, vielleicht gelingt mir das ebenso!“ Solche lebensbejahenden Zeugnisse können motivierend sein, auch wenn ihr Wahrheitsgehalt nicht immer nachvollziehbar ist. Es wäre unfair, nicht anzuerkennen, dass manche Menschen – trotz größter Anstrengung – schlichtweg nicht die emotionalen/spirituellen Ressourcen haben, um aus schwierigen Situationen einen Segen herauszuziehen. Und es wäre falsch, sie dafür herabzuwürdigen. Schließlich wählt niemand sein verfügbares Maß an emotional-spirituellen Mitteln selbst aus. Niemand behauptet, diese Arbeit sei leicht; es geht vielmehr um die Frage: Ist es den Aufwand in jedem Fall wert? Ich glaube, die Antwort darauf ist: Ja! Denn auch dann, wenn jemand seine Erfahrung nicht vollständig verdauen kann, führt alleine schon der Versuch zu einem wahrnehmbaren Nutzen.

Was wäre der Höhepunkt solcher Arbeit? Wie weit kann sie mich führen? Weiter als du dir vorstellen kannst. Ich kenne ein vollkommen erwachtes Wesen, das sich selbst als „einen ganz normalen Menschen, der seine Arbeit vollbracht hat“ bezeichnet, aber anonym bleiben möchte. Er hat einen Punkt erreicht, an dem er jegliche leidvolle Erfahrung mühelosals Segnung empfindet. Er hat ein dermaßen tiefgehendes Vertrauen in das Muster (der göttlichen Intelligenz), dass er sogar inmitten von Schmerz und Leid die segenbringende Energie fühlt, lange bevor der spezifische Segen des jeweiligen Ereignisses sich offenbart. Er fühlt tiefe Dankbarkeit, auch wenn er leidet. Er erfährt Leid nicht mehr als schlecht oder falsch (obwohl es immer noch unangenehm ist), und ist in jeder Hinsicht dankbar für alles. Als einer der wenigen Menschen auf Erden kann er ehrlich sagen: „Alles ist zum Besten in dieser besten aller möglichen Welten“. Dieses Statement ist wahr ­– allerdings nur dann, wenn es aus eigener Erfahrung entspringt. Andernfalls ist es einfach nur eine Absurdität.

Während ich selbst noch weit von dieser Form des Erlebens entfernt bin, so habe ich doch großes Vertrauen in das Muster. Ein Vertrauen, dass nur selten durch herausfordernde oder schmerzliche Ereignisse erschüttert wird. Ich erwarte den Tag, an dem auch ich diesen vollkommen unerschütterlichen Zustand erlange, und ich weiß, dass dies möglich ist. Das tiefe Vertrauen in das Leben, das ich erfahre (wenn auch noch nicht zu 100 %), ist bereits die kostbarste Frucht meiner gesamten spirituellen Praxis. Der weitaus erfüllendste Part des Grundvertrauens in das Leben ist sicherlich die fühlbare Sinneswahrnehmung, dass jedes noch so leidvolle Ereignis bereits Segen in sich trägt – Dankbarkeit mit sich bringend, sogar bevor sein Segen offenbar wird.

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Wichtiger Nachtrag: In dieser Diskussion spiele ich auf Zustände des Bewusstseins an, in denen jemand unmittelbar (nicht-konzeptionell) die Wahrheit erfährt. Wie nun unterscheidet sich dieser Mensch von dem, den ich zu Beginn des Beitrags, aufgrund seiner Ignoranz und seiner Anhaftung an das, was sich für sie/ihn richtig anfühlt, kritisiere? Es gibtwichtige Unterschiede, auf einem feinen und tiefgreifenden Level. Im letzteren Fall ist jemand emotional gebunden an das Gefühl, dass in ihm aufsteigt, wenn eine bestimmte Haltung geglaubt wird. Jemand mag sich auch dann mit seiner Ansicht wohl fühlen, wenn die Fakten diese ganz offensichtlich widerlegen. Dies unterscheidet sich ganz grundlegend von dem, was geschieht, wenn wir uns erfolgreich von jeglichen Glaubenssätzen gelöst haben, und im rohen, nackten So-Sein des Lebens angekommen sind. Wir beginnen, das-was-wahr-ist  wahrzunehmen, ob wir es mögen oder nicht, und erkennen das-was-wahr-ist, ob wir es glauben wollen oder nicht. Diesen Bewusstseinszustand nennen wir präkonzeptionell, weil er stattfindet, bevor wir interpretieren, bevor wir Konzepte über das Erleben stülpen. Aber, anders als der präkonzeptionelle Zustand eines Kleinkindes, ist dieser Zustand erfüllt von vollem Gewahrsein und wortloser Klarheit, einer Art  durchdringender Einsicht, die auf vielfältige verbale Weise und im Einklang mit dem Seelenzustand des Zuhörers ihren Ausdruck finden kann (innerhalb der Grenzen von Sprache).

Es gibt ein Lied von Bilie Holliday mit Titel dieses Beitrags „Everything happens for the best“. Sie erzählt von der tröstlichen Glaubensvorstellung „der alten Leute/Ahnen“, dass Gott einen Plan hat, und zwar einen guten Plan. Ein Gottvertrauen, für das die Alten plädieren. Die Sängerin möchte ihnen Glauben schenken, denn das würde zu beruhigender Gewissheit führen. Aber genau das ist der Unterschied zwischen Religion und Spiritualität: Ersteres besteht aus tröstlichen Glaubensvorstellungen (so gesehen, wenn wir ehrlich sind, ist vieles, was heute unter dem Deckmäntelchen der Spiritualität läuft, eigentlich Religion). Und Letzteres besteht aus der Bereitschaft, jeglichen Glauben loszulassen, zu sehen was wirklich wahr ist, ob es einem gefällt oder auch nicht. Wir leben in unglaublich glücklichen Zeiten und Umständen, in einem Universum, in dem wahr ist, dass jedes Ereignis das Potenzial für segenbringende Energie in sich birgt, und das sich dieses Potenzial proportional zu der Intensität des Ereignisses verhält! Nun stellt sich die Frage, ob du dich damit zufrieden gibst, genau das zu glauben, oder willst du das Level der Realität selbst erleben, in dem all dies so unwiderlegbar wahr ist, wie der Himmel blau und der Regen feucht ist?


 

Was sind die „nahen Feinde der Wahrheit“? Ich entleihe diesen Satz aus dem Buddhismus, um mich auf verzerrte Versionen spiritueller Lehren zu beziehen. Auf Aussagen, die wesentlichen und subtilen Wahrheiten ziemlich nahekommen, aber dennoch knapp daneben liegen, was auf lange Sicht gesehen zu großen Unterschieden führt. Wenn wir von tiefgreifenden und grundlegenden Wahrheiten sprechen, so machen Äußerungen, die „ein bisschen falsch“ sind, kurzfristig betrachtet keinen großen Unterschied, wohl aber auf lange Sicht. So wie eine kleine Kursabweichung deines Bootes auf kurzen Strecken zunächst unerheblich ist, dich aber nach einigen tausend Meilen auf einen anderen Kontinent bringt.

Manche Menschen werden gegen das Wort „falsch“ im letzten Absatz Einspruch erheben. Diese Leute folgen der Idee, dass das einzig notwendige Kriterium für die Wahrheit darin besteht, dass es sich für einen selbst wahr anfühlt. Diese Sichtweise ist in Bezug auf Spiritualität ebenso gefährlich wie in Bezug auf Politik. Denn dahinter steht zumeist: Ich will, dass es wahr ist, also glaube ich es –  egal wie die Fakten sind. Wenn du nicht erkennst, wie brisant dieses Thema ist, oder wenn du zweifelst, ob es überhaupt Fakten oder universelle Wahrheiten gibt, lies bitte die zweite Hälfte des vorigen Blogbeitrags (nahe Feinde #1) und den unten angefügten Nachtrag.

Für jeden spirituellen Sucher ist es enorm wichtig zu erkennen, warum es sich um nahe Feinde handelt, und nicht um die Wahrheit selbst, wenn er/sie über den Status eines Anfängers hinauswachsen will, um tief in die (überaus erfüllende) spirituelle Arbeit einzutauchen. Ich möchte hier noch anfügen, dass ein wirklich „naher“ Feind für einen Anfänger ein Verbündeter auf Zeit sein mag. Aber auf einem höheren/tieferen Level spiritueller Praxis gibt es kein „nahe genug“ mehr. Wenn du deine bequemen und wohlgefälligen Selbstbeteuerungen nicht auf dem Altar der Wahrheit opferst, wird dein Fortschritt stagnieren. Nach dieser kurzen Einführung, lass uns auf den nächsten nahen Feind der Wahrheit schauen.

Über

Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA, Übersetzerin