Was ist Spirituelles Erwachen?
Christopher Wallis bringt Licht in das wilde Kuddelmuddel von Meinungen, Erfahrungen und Wunschdenken
Während wir in einer Yoga-Stunde oder auf einem Retreat ganz konkrete spirituelle oder auch körperliche Erfahrungen des Weit-Werdens und des Sich-Öffnens erleben, gibt es bei vielen Praktizierenden ein Sehnen danach, über diese Erlebnisse hinaus tiefer, möglichst dauerhaft in neue Räume der Wahrnehmung vorzudringen. Diese Vertiefung – von der so viele sprechen, die aber anscheinend nur wenige erreichen – ist das, was wir mangels besserer Worte „spirituelles Erwachen“ nennen.
So wie es schwer ist, jemandem, der noch nie eine Mango probiert hat, ihren Geschmack zu erklären, so ist es im Grunde genommen schier unmöglich, spirituelles Erwachen sprachlich so zu vermitteln, dass eine Ahnung entsteht, wie sich das Leben von dort aus anfühlen mag. Und doch wagen wir hier das Experiment, uns dem Thema anzunähern. Es basiert auf Texten und Gedanken von Christopher Hareesh Wallis – er hat sein Leben dem Ziel gewidmet, den Weg des spirituellen Erwachens zu gehen und ihn uns aufzuzeigen.
Wenn du den Prozess nicht selbst durchlaufen oder zumindest begonnen hast, wirst du spirituelles Erwachen vielleicht als einen Mythos betrachten – etwa mit neugierigem Interesse, oder auch mit einem Gefühl wie „so etwas passiert nur anderen, mir eher nicht“. Möglicherweise ist da ein Misstrauen gegenüber denen, die das Thema allzu begeistert für sich in Beschlag nehmen, oder du hast von den vielen falschen Versprechungen im esoterischen Umfeld gehört. Vielleicht reichen dir deine eigenen spirituellen Erfahrungen im Leben völlig aus. Aber es kann ja auch sein, dass du doch so etwas wie eine tiefe Ahnung hast, selbst auf einer spirituellen Reise zu sein, an deren Ziel „Erwachen“ steht.
So viel steht fest: Erwachen ist keine Gipfelerfahrung. Es ist überhaupt keine Erfahrung. Dennoch ist es möglich, dass bewegende und befreiende Erlebnisse darauf hinzeigen, uns auf unser Ziel hin ausrichten.
Was ist Erwachen, wenn es keine Erfahrung ist?
Erwachen ist ein Prozess. Und dieser Prozess führt in einen Paradigmenwechsel, eine grundlegende Veränderung, wie du das wahrnimmst, was gerade jetzt in dir und um dich herum geschieht, was gerade ist. Es geht um die Neu-Konfiguration der Art und Weise, wie du einfach alles erlebst – und das natürlicherweise ganzheitlich – also auch mit deinem Körper und deinen Sinnen.
Ein Beispiel: Der Rasenmäher in Nachbars Garten regt dich auf, du wirst immer ärgerlicher, weil dich die Geräusche stören. Vielleicht sieht die gleiche Situation aus dem erwachten Zustand heraus so aus: Dein Wahrnehmungsraum weitet sich auf alles aus, was gerade ist: Da ist der Wind auf der Haut, da fliegt eine Biene vorbei – und da ist der Rasenmäher. Etwas ist. Der Atem weitet sich. Und da ist sogar das Wahrnehmen einer Irritation, die ausgelöst wird. Aber das Gefühl von Ärger hat dich nicht mehr fest im Griff. Du bist dir in jedem Augenblick bewusst über das, was ist, und gewinnst immer mehr Souveränität darüber, wie du einer Situation begegnest.
Deine Wahrnehmungen führen nicht mehr in deine gewohnheitsmäßigen Reaktionen, die dich dadurch binden, dass sie eben nicht bewusst sind, sondern konditioniert. Du hörst auf damit, deinem Leben und Erleben deine Vorurteile, Beurteilungen, Präferenzen und unbewussten Muster überzustülpen. Wenn du nicht mehr aufgrund von solchen Mustern reagierst, sondern aus tiefer Überzeugung und Bewusstheit über dein Tun, dann bist du frei.
Wir sehen: Keine Sprache der Welt hat ein angemessenes Wort für „Erwachen“. Mit der Metapher des „Aufwachens aus einem Traum“ kommen wir dem Phänomen etwas näher – denn so fühlt es sich an.
Ist Erwachen das Gleiche wie Erleuchtung?
Im westlichen Diskurs wird Erwachen gerne mit Erleuchtung übersetzt, was eine Art plötzlichen, mystischen Download von Wissen oder Weisheit impliziert (das kommt so gut wie nie vor und ist daher für uns irrelevant). Es ist sogar anders herum: Während es den Anschein erwecken kann, als ob die erwachte Person etwas weiß oder hat, das die anderen nicht haben, bedeutet Erwachen vielmehr, etwas Wesentliches zu verlieren: nämlich deine uralten, tief konditionierten Überzeugungen darüber, wer du bist und wie die Welt beschaffen ist, die jeden Augenblick die Art und Weise einfärben (= konditionieren), wie du diesen Moment wahrnimmst. Dabei gibt es rein gar nichts zu gewinnen – außer Freiheit (mokṣa). Freiheit von all den begrenzenden Vorstellungen, die du dir selbst erzählst, oder die in deinem jeweiligen sozialen Kontext als verbindlich gelten. Du erkennst, dass einfach nichts, was ist, deinem begrenzten Wissen darüber entspricht. Was du erlebst ist real, dennoch existiert die Welt deiner Gedanken und Meinungen ausschließlich in deinem Kopf, mit seinen jeweiligen Vorgeschichten und Begrenzungen. Die Grenzen deiner Wahrnehmung und deiner Wertungen werden offener und weiter. Erwachen ist die tiefe Liebe zu dem Wunder des Gewahrseins an sich – was zu einem Zustand führt, für den wir ebenfalls kein angemessenes Wort kennen. Im Sanskrit heißt er ānanda, wir können es als Verzückung, Glückseligkeit, tiefes liebevolles Einverstandensein bezeichnen; oder auch als Passion – die das Potenzial für Hingabe, Leidenschaft und auch das bejahende Erleben von Schmerz mit einschließt. Alle diese Worte werden in ihrer vollen Bedeutung erst deutlich, wenn du »wach sein« selbst kennst.
Um uns weiter anzunähern, betrachten wir verschiedene Versionen, vielmehr Stationen des Erwachens; die folgenden vier konnte ich bisher ausfindig machen.
1. Erwachen aus dem sozial konstruierten Selbst
Wir glauben fälschlich, dass unsere Gedanken, Erinnerungen, Stories und Selbst-Bilder uns definieren, beschreiben und ausmachen. (»Ich bin soundso und nicht anders, habe diese oder jene Geschichte und agiere x weil y; oder simpler noch: ich bin dick/dünn; schnell/langsam, flexibel/steif« usw.). All solche Beschreibungen trennen, statt zu verbinden und sind nicht wirklich wahr insofern, als sie alle nur eine Momentaufnahme sind, eine individuelle Wahrnehmung, deren Wertung stark vom gesellschaftlichen Umfeld und der eigenen Geschichte darin abhängt. (So ist beispielsweise im Westen Dünn-Sein schick, während in einigen afrikanischen Ländern Dick-Sein erstrebenswert ist).
Wir erwachen also aus dem Traum, dass die Inhalte unserer unaufhörlich plappernden Gedanken und Gefühle irgendetwas damit zu tun hätten, wer wir wirklich sind. Dann erkennen wir ganz klar, dass es keinen belastbaren Bezugspunkt für den „Ich“-Gedanken gibt. So echt und irgendwie wichtig es sich auch anfühlen mag: „Ich“ ist ein Konzept, das auf nichts anderes verweist als auf ein erfundenes, unzureichend definiertes, nebulöses und widersprüchliches Selbstbild, das sich zudem noch fortwährend verändert. Alle Gedanken, Konzepte oder Vorstellungen von „ich/mein/mir“ verschleiern gewissermaßen mein wahres Wesen, meine Essenz, meinen tiefen, unwandelbaren Kern, den ich mit allen lebenden Wesen gemein habe – das Bewusstsein selbst. Denn alles, was auf der Ebene der von uns wahrnehmbaren Realität passiert, wird (wie wir selbst) wieder verschwinden. Was bleibt, ist die Wahrheit, dass nichts von Dauer ist, außer Bewusstsein selbst. Beim wirklichen Erwachen handelt es sich um erfahrungsmäßige Erkenntnisse, nicht um begriffliche, daher ist es so schwer, es effektiv in Worte zu fassen.
2. Erwachen aus der konzeptionellen Überlagerung
Das heißt, wir projizieren nicht länger die eigenen, selbst konstruierten und oft emotional aufgeladenen Konzepte über die Dinge auf die Dinge, die unsere Welt ausmachen, die uns beschäftigen. Das ist die logische Erweiterung von Punkt eins und, zugegeben, leichter gesagt als getan. Bei den meisten Menschen dauert es sehr lange, aus der Gewohnheit der begrifflichen und somit auch immer interpretativen Überlagerung herauszukommen. Wenn wir diesen Faden der Erkenntnis bis zu seinem Ende verfolgen, führt er unweigerlich zum:
3. Erwachen aus der Illusion, getrennt von allem (und allen) anderen zu sein.
Wenn ich den Glauben vollständig ablege, dass Objekte und Menschen von mir selbst getrennt sind, erwache ich zur Wahrheit der nahtlosen Einheit mit allem, was ist. Obwohl diese spezielle Version bzw. Stufe des Erwachens unter dem schönen Namen „Einheitsbewusstsein“ gerne verherrlicht wird, ist sie in Wirklichkeit überhaupt nicht mystisch. Es geht „nur“ darum, klar zu sehen, d.h. ohne den Filter des konditionierten Geistes. Ja, das ist möglich! Du erlangst keine Einheit; du erkennst erfahrungsgemäß, dass du niemals von irgendetwas getrennt gewesen bist.
In dieser (Wieder-)Erkenntnis deines wahren Selbst nimmst du dich beispielsweise nicht mehr als Mutter oder Deutsche oder Ärztin oder Yogīni wahr, sondern als derjenige Teil des Universums, der jetzt gerade diese begrenzte Rolle als Du spielt und sich daher jetzt gerade nicht mit dem Universum als Ganzem identifiziert. Genauso wenig wie ein Schauspieler auf der Bühne glaubt, er sei wirklich Hamlet, auch wenn er seine Rolle mit großer Leidenschaft spielt.
4. Erwachen aus dem Glauben an eine objektive Realität
Erwachen ist nicht nur eine weitere Interpretation der Realität, die du mit all deinen anderen Geschichten in dein Sein integrieren kannst – sondern es ist ein grundlegender Paradigmenwechsel, der alle Interpretationen beendet: Du hörst auf, die Welt als subjektiver Betrachter zu sehen, der von dir getrennte Objekte wahrnimmt, und diese permanent interpretiert, kategorisiert, be- und verurteilt. Erwachen versetzt dich in einen absolut unbeschreiblichen Seinsmodus, in dem das einzig wahre „Wissen“ darin besteht, dass du alles, was du jemals zu wissen glaubtest, eben nicht weißt. Es ist ein Verweilen in unverfälschter Vertrautheit mit absolut Allem-was-ist – frei von der Notwendigkeit, es zu verstehen oder zu interpretieren, und frei von dem Impuls, es zu akzeptieren oder abzulehnen – einschließlich deiner eigenen Gedanken! Erleben ist das, womit das Bewusstsein sich selbst willentlich in unzähligen Facetten erfährt, die sich ständig verändern. Er-Wachen ist die Er-Kenntnis: Bewusst-Sein ist die unwandelbare Essenz, die Grundlage, auf der alles Er-Leben stattfindet.
Es gibt keinen anderen Weg des Erwachens, als den Weg selbst zu gehen. Manche Lehrer*innen sind ihren Weg bereits gegangen und können dir Richtungen weisen; es sind nicht unbedingt diejenigen, die sich selbst damit brüsten. Alle Worte dieser Welt befreien dich nicht von eigenem Bemühen, gesundem Menschenverstand und dem tiefen Wunsch, die Wahrheit zu erkennen – ohne Konzepte, Abkürzungen oder Illusionen.
Ist der Prozess des Erwachens erst einmal im Gange, führt er zu zunehmender innerer Freiheit und immer noch tieferem Erwachen zu deiner Essenz-Natur.
Quelle: Dr. Christopher Hareesh Wallis
ist akademisch ausgebildeter Gelehrter und Praktiker mit dreißig Jahren Erfahrung. Er erhielt eine traditionelle Ausbildung in āshrams im Bundesstaat New York und in Indien, wo er in Meditation, Mantra-Wissenschaft, kīrtan, Karma-Yoga, Pädagogik und vielem mehr geschult wurde. Hareesh leitet Retreats und Yoga-Reisen und ist Gründer und Leiter des Lernportals »Tantra Illuminated« und der »Tantrik Yoga NOW« Facebook-Gruppe. Er ist Autor von Tantra Illuminated und The Recognition Sutras. Die deutsche Übersetzung »Licht auf Tantra« erschien im Herbst 2023 bei O.W. Barth.
https://tantrailluminated.org/
https://hareesh.org/
Über die Übersetzer:
Brigitte Heinz
Yogalehrerin, Grafikerin, Autorin, Übersetzerin
Zusammen mit Nicole Konrad hat sie das Buch »Yoga für jeden Körper« sowie Ausbildungsunterlagen für Yogalehrende verfasst. Außerdem bieten beide eine kostenlose Online-Vortragsreihe über Yoga-Wissen an.
https://www.brigitte-heinz.de/
Hajo Normann
Tantrika, bhakta, Autor, Übersetzer (und IT Berater).
Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA, Übersetzerin