Den Augenblick auskosten
In der tantrischen Yoga-Philosophie ist vielfach die Rede davon, dass man mental-emotionale Ereignisse komplett verdauen sollte, um nicht neue Vikalpas (mentale Konstrukte als Abbild der tatsächlichen oder vermeintlichen Realität) zu erzeugen. Die Idee dahinter ist, dass wir unbewusste oder nicht bearbeitete Ereignisse oder Emotionen so lange weiter mit uns herumschleppen, bis sie irgendwie wieder an die Oberfläche kommen, bis sie unsere Aufmerksamkeit finden, und dann „verdaut“ werden können. Das gilt sowohl für freudvolle wie auch für herausfordernde oder schreckliche Erlebnisse, die wir nicht in ihrer Gesamtheit bis zum Ende, also bis zum natürlichen Verebben des Gefühls erlebt haben.
Die spannende Frage lautet: Wie verdaue ich denn meine Emotionen?
Hilfreich finde ich die Idee, dass ich allen Dingen und Ereignissen die mir begegnen, mehr Aufmerksamkeit widme. Der Alltag bietet uns viele Beispiele. Das beginnt mit dem Schlaf. Abgesehen von frühem Aufstehen weil Arbeit ansteht – wie oft gönne ich es mir, so lange zu schlafen oder im Bett zu bleiben, bis wirklich der Impuls kommt, dass ich aufstehen will. Aus Gewohnheit, und weil ich Frühaufsteher bin, springe ich gerne aus dem Bett, anstatt erst einmal genüsslich alle Glieder zu räkeln, das erste Sonnenlicht hinter meinen Lidern willkommen zu heißen, tief durchzuatmen, zu fühlen, wie es meinem Körper gerade geht, mir vielleicht ein paar abschließende Gedanken zur vergangenen Nacht oder zu gerade beendeten Träumen zu machen, und den neuen Tag gebührend zu begrüßen.
Die Morgentoilette ist meist eine unbewusste Routine die zügig abgehandelt wird. Selten gönne ich mir die Freude, mich mit einer Bürste zu striegeln oder mit einer Creme zu verwöhnen. Der Morgen-Tee (gerne auch Kaffee) wird häufig durch gleichzeitiges E-Mail-checken zur Nebensache. Es gilt, Einkaufs- oder sonstige Pläne zu schmieden, TV-Angebot und Welt-Ort-Tages-Nachrichten auf den aktuellen Stand zu bringen, die sozialen Medien zu überfliegen. Kaum einmal, meist im Urlaub, nehme ich mir wirklich Zeit für Genuss. Speisen bis zu Ende kauen, ein weites Feld. Oftmals schiebt einen Bissen den nächsten nach, bis der Teller leer ist. Anstatt jeden einzelnen Geschmack zu erkunden, geschweige denn, erst mal den Mund zu leeren, bevor etwas Neues hinein darf – oder Worte hinaus. Vergleichbares gilt für Getränke. Und dabei behaupte ich sogar, dass ich wirklich mit Freude Lebensmittel kaufe, zubereite, esse und trinke.
Der Weg zur Arbeit, registriere ich den überhaupt bewusst? Die Arbeit selbst, vollstrecke ich sie, bin ich total im Flow, nehme ich kleine Randerscheinungen überhaupt wahr? Die kleine Spinne, die sich am Rad abseilt, meinen Lieblingssong der aus irgendeiner Straßenecke tönt, die Stimmung meines Kollegen am Telefon … Und wenn ich so etwas wahrnehme, empfinde ich das eher als ablenkendes Hindernis, oder als eine willkommene Ergänzung des Augenblicks? Wie sieht es insgesamt mit meiner Sensibilität gegenüber anderen Menschen um mich herum aus? Nehme ich sie wahr, was fühle ich, ignoriere ich sie, sind Menschen oder Dinge in meinem Blickfeld, und was blende ich aus?
Das weite Feld der Begegnungen mit den Menschen, die mir näher stehen als z.B. Kollegen. Wenn ich mich mit meinem Partner unterhalte, oder mit Familienmitgliedern. Geht es darum, sich aufeinander einzulassen und ehrlich zu kommunizieren? Oder doch vielmehr darum, möglichst vieles von dem was unausgesprochen und unangenehm ist, auszusparen?
Dem begegnen, was IST
In der tantrischen Philosophie ist ein zentraler Kernpunkt die wahre Begegnung mit allem was IST. Und das Anerkennen, dass all das auf tiefer Ebene O.K. ist, dass es nichts gibt, was abzulehnen wäre, nichts, was festzuhalten ist. Dass alles mit allem in Verbindung ist, jedes Tun eine Folge aus all dem ist, was je zuvor war und getan wurde, und dass niemand, auch ich selbst nicht, je hätte anders handeln können als wir in einem bestimmten Augenblick getan haben. Letztendlich verstehe ich es so, dass ich alles was ist willkommen heiße, nichts vermeide, alles annehme – egal ob es mir angenehm ist oder nicht (was keinesfalls heißt, dass ich mich absichtlich in unangenehme Situationen bringe). Kurzum, dieses mein Leben in all seinen Facetten und in all seinen Möglichkeiten, Höhen und Tiefen auszukosten und ganz bewusst zu erleben. Diese sehr tantrische Einstellung erlaubt eine vollkommene Bejahung des eigenen Lebens und befreit von jeglicher Vorstellung bzw. Illusion, wie etwas anders sein sollte oder könnte. Es befreit von Scham, Schuld und Verurteilung (ohne die Verantwortlichkeit oder Konsequenzen zu negieren), und bietet die Freiheit, mich in jedem Augenblick von Neuem für das Leben zu entscheiden; dafür, dem Leben selbst in allen Erscheinungsformen (auch mir selbst) das größtmögliche Potenzial zur Entfaltung zu geben.
Dasselbe gilt für Yoga-Asanas. Gebe ich mir die Zeit, jede Übung in all ihren Details wahrzunehmen? Und wie sieht es mit den Übergängen aus, sind es flüchtige Zwischenstationen zwischen den tollen Top-Haltungen, oder gelingt es auch hier, das Bewusstsein fokussiert zu halten? Würde ich bei ungeliebten Asanas am liebsten gleich den Raum verlassen? Wie reagiere ich auf Herausforderungen? Will ich Asanas meistern, will ich sie besiegen oder in all ihren Facetten erkunden? Wie fühle ich mich wenn ein Asana nicht gelingt, wenn der Körper steif ist oder schmerzt? Gelingt es mir, den herabschauenden Hund auch beim xten Mal mit wunderbarem Staunen zu praktizieren? Wie fühlt es sich im Hund an, die Zehen zu heben, oder nur die dicken Zehen, oder alle anderen außer dem dicken Zeh. Nehme ich jeden Atemzug als Geschenk an, oder strömt der Atem ohne meine Beachtung?
Solche Fragen stellt die Yoga-Praxis, und die Antworten sind jedesmal andere. Ihre Erkundung führt mich immer tiefer in mein Erleben und in mein Innerstes. Das macht für mich die Qualität meiner Yoga-Praxis aus, ich kann meine Aufmerksamkeit fokussieren, beibehalten und erweitern – vielleicht auch irgendwann einmal über die Zeit von Yoga und Meditation hinaus.
Wie so viele meiner Beiträge ist auch dieser von Hareesh Christoper Wallis beeinflusst.