Die nahen Feinde der Wahrheit
Hajo Normann und ich erschaffen gerade in großartiger Zusammenarbeit die deutsche Übersetzung für dieses Buch. Es wird 2025 bei O.W.Barth erscheinen.
ausgewählte Abschnitte aus »Die nahen Feinde der Wahrheit«
von Christopher Hareesh Wallis
Auf der Suche nach Sinnhaftigkeit im Leben treffen viele Menschen auf Yoga oder Esoterik oder spirituelle Gemeinschaften der unterschiedlichsten Richtungen. Selten hat jemand das Glück, sofort den Menschen und Lehrenden zu begegnen, die eine stimmige Richtung oder einen theoretischen Hintergrund geben können, der attraktiv genug erscheint, um Engagement und Beständigkeit für den spirituellen Weg aufzubringen. Zumeist sieht man sich gerade auch als »Anfänger« schier unendlich vielen Argumenten und Vorstellungen gegenüber, die sich zum Teil sogar komplett widersprechen. Das führt im besten Fall zu Verwirrung und Neugier, im schlechteren Fall zu pauschaler Ablehnung.
Das aktuelle Buch von Hareesh Christopher Wallis, »Die nahen Feinde der Wahrheit« (Near Enemies of the Truth) beleuchtet einige dieser Aussagen, Gegensätze und Missverständnisse aus der Sicht des Tantra, welches die Grundlage des modernen Yoga ist. Ein wichtiges Ziel im Tantra ist es, die Wahrheit so zu erkennen, wie sie wirklich ist.
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Spiritualität ist nicht gleich Jubel und Glückseligkeit
Im Einleitungstext beschreibt Hareesh beispielsweise, aus welcher geschichtlichen Entwicklung die tragische Fehlannahme stammt, dass die spirituelle Entwicklung stets mit Glückseligkeit, bliss (englisch), ānanda (sanskrit), einhergeht. Dieser Begriff wurde in den schrillen 60er Jahren des 19. Jahrhunderts aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und führt bis heute mit seiner eingeschränkten und dadurch verfälschten Sicht auf die spirituelle Entwicklung zu Enttäuschung und falschen Grundannahmen.
Bliss, love, peace und happiness
In den 1960er Jahren waren die alten Werte von Ehre, Ruhm und Vaterland gescheitert, die vorangegange Generation hatte Krieg, Tod und Verderben über die Welt gebracht. Erstmals in der neueren Geschichte wurden die jungen Menschen laut und sangen und tanzten die farbenfrohen Ideale von Freiheit, Frieden und Glückseligkeit in die Welt. Die Hippie-Bewegung hat einen einschneidenden Wandel bewirkt, der viele Menschen nachhaltig geprägt und die ganze Gesellschaft verändert hat.
Einige ihrer Ideen folgten den Formulierungen eines Mannes namens Joseph Campbell. Er war ein Schüler Heinrich Zimmers. Und der wiederum stammte aus Deutschland und studierte wie sein Vater mit gleichem Namen die spirituellen Traditionen Europas und Indiens, er war Sanskritist und Professor – und beschäftigte sich naturgemäß mit den großen Sinnfragen.
Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit
In der indischen Weltanschauung gibt es einen sehr bekannten Leitsatz über die Natur der Realität: sat-cit-ānanda – sat [Sein], cit [Bewusstsein] und ānanda [bliss: Glückseligkeit oder Verzückung]). Campbell erkannte, dass er die wahre Natur seines Seins oder seines Bewusstseins nicht kannte. Aber er wusste, was glückselige Verzückung war, und beschloss, dem zu folgen. In diesem Moment der Erkenntnis ahnte er (richtigerweise), dass die erfolgreiche kontemplative Erforschung eines der drei Elemente zu einem Verständnis der beiden anderen führen würde.
Aus dieser Idee heraus entwickelten sich Slogans wie: »Folge dem, was dich glücklich macht«, »Tu das, was du am meisten liebst«, »Tu, was sich gut anfühlt, das Geld kommt dann von selbst«. Solche Sätze spiegeln einige Grundsätze der Hippie-Kultur und bis heute weit verbreitete Vorstellungen vom Gesetz der Anziehung. Demnach ziehst du das an und zu dir hin, was du liebst und lebst – und daraus soll dann automatisch Erfolg und Wohlstand entstehen. Außerdem entstanden super-optimistische Glaubenssätze wie: »Denke/Sei positiv … wenn du etwas nur genug willst, wird es real werden«.
Es lohnt sich, genauer hinzuschauen
Die Akteure jener Zeit mögen diese Parolen genau so empfunden und teilweise auch erfolgreich gelebt haben – aber im Rückblick sollten wir die zeitlichen Umstände berücksichtigen. Die erfolgreichen Glücksritter von damals vergessen zuweilen, dass sie auf der Welle des Aufschwungs der Nachkriegszeit ritten und davon profitierten. Man konnte mit etwas Glück und Geschick bei relativ wenig Einsatz viel erreichen. Neue Ideen kamen gut an, es wurde experimentiert, mit neuen Geschäftsmodellen und Produktionsmitteln, mit gesellschaftlichen Strukturen. Viele hatten schnell großen Erfolg – den sie sich gerne selbst zuschrieben.
Die Kehrseiten
Solche Selbst-Bilder von angeblich selbst gemachtem Erfolg bergen immer auch die Gefahr, das eigene Ego ins Maßlose aufzublähen. Und sie verführen zu der irrigen Annahme, man sei (ausschließlich) seines eigenen Glückes Schmied und hätte immer eine freie, eigene Wahl – die dann zu Erfolg oder eben Misserfolg führt.
All diese Gedanken bergen intrinsich auch ihr genaues Gegenteil in sich. Denn im Umkehrschluss gilt eben auch: Wenn ich keinen Erfolg habe, habe ich ihn nicht intensiv genug gewollt, oder mich »falsch« entschieden. Mißerfolg ist so betrachtet mein ganz persönliches Drama, mein individuelles Scheitern. Ich konnte mein Glück nicht schmieden, habe die falsche Wahl getroffen und versagt.
Das ist aber einfach nicht wahr. Individuelles Bemühen ist immer notwendig. Aber äußere Umstände haben eben auch immer ihren Einfluss. Wer die Nabelschnur-Lotterie gewonnen hat, ist ohne eigenes Zutun immer schon im Vorteil gegenüber denen, die in Armut und eher chancenlos auf diese Welt kommen. Und die Frage nach einer eigenen, freien Möglichkeit der Wahl in jeder Situation – was wir auch den »freien Willen« nennen können – ist ein weiteres, spannendes Kapitel des Buches, auf das ich hier nicht weiter eingehe (vgl. Kapitel »Reality«).
Was steckt in Wahrheit drin?
Der wahre Hintergrund der oben bereits angesprochenen, ursprünglichen Philosophie von sat-cit-ānanda ist der Hinweis auf einen spirituellen Weg, der zu innerer spiritueller Größe führen kann. Campbell selbst hat später gesagt, dass es vielleicht besser gewesen wäre, hätte er statt Glückseligkeit den Begriff Leidenschaft geprägt: »Folge deiner Leidenschaft, etc. Leidenschaft trägt im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen eben auch Worte wie »Leiden« und »sich hingeben« in sich. Es geht auf dem spirituellen Weg des Erwachens eben nicht nur um Spiel, Spaß, Spannung, sondern darum, die innere Welt, die eigene essenzielle Wesensnatur zu erkennen und sämtliche Illusionen abzubauen. Was oftmals eben auch schmerzhaft und langwierig ist und nicht unbedingt unseren heutigen Vorstellungen von Erfolg entspricht.
Wie finde ich Glückseligkeit, innere vollkommene Zufriedenheit in mir?
Das sind ewige Fragen und es gibt unendlich viele Wege und genauso viele Irrwege.
Nichts und niemand befreit uns von gesundem Menschenverstand, ehrlicher Selbst-Beobachtung und fortwährendem Bemühen, was die Lehre und die Praxis angeht. Der Weg ist für die meisten von uns holprig und langwierig und entspricht eher der Vorstellung von »Leiden-schaft« als der von »Glückseligkeit«. Dennoch lohnt sich die Mühe, denn wenn wir uns von unseren Stories, angesammelten Sankalpas und Irrwegen befreit haben, dann sind wir tatsächlich frei von allen mental konstruierten Hindernissen und können wirklich aus unserer eigenen Essenz-Natur heraus leben und entscheiden – was eine sehr zutreffende Beschreibung für ānanda, Glückseligkeit, bliss ist.
Das alles gilt natürlich nur für den Fall, dass wir uns überhaupt auf einen spirituellen Weg begeben wollen, und dass wir die spirituelle Entwicklung als unser Ziel betrachten.
Yoga-Praxis
Bezogen auf unsere Yoga-Asana-Praxis üben wir beständig, wir kommen immer wieder zur Yogastunde und sind willens, uns auf etwas Neues einzulassen. Wer Yoga praktiziert, lässt sich auf die philosophischen Ideen ein, die unserer Praxis zugrunde liegen. Wir probieren neue Dinge mit unseren Körpern aus, und hören in uns hinein: was fühlt sich wie an. Wir riskieren sogar ein wenig Muskelkater wenn wir unbekannte Weiten in unseren Muskeln erforschen. Wir üben ganzheitlich: Geist, Körper, Atem und Klang. Jede*r hat zwar eigene Vorlieben, aber wir treffen uns immer wieder zur Yogastunde – um das alles in Gemeinschaft zu erleben.
Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA, Übersetzerin