Roots of Yoga
Auszug aus: »Roots of Yoga« von James Mallinson und Mark Singleton
übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Heinz, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Das Buch »Roots of Yoga« erschien 2017 bei Penguin Classics. Auf 572 Seiten werden Originaltexte – aus den unterschiedlichsten südasiatischen Sprachen ins Englische übersetzt – vorgestellt, kommentiert und nach Sinnabschnitten wie Atem, der yogische Körper, Mantra, Meditation, uvm. geordnet. Diese Textsammlung umfasst einen Zeitraum von 1.500 vuZ bis ins 19. Jahrhundert; sie ist sehr umfangreich und erfordert ein wenig Vorwissen und Freude am Lesen akademischer Texte. Ich empfehle es jedem, der tiefer in die theoretischen Hintergründe des Yoga eintauchen möchte. Die folgenden Auszüge aus der Einleitung sind stark gekürzt mit einigen Auslassungen. Sie zeigen einige Irrtümer auf, die bis heute in Bezug auf Yoga und seine Quellen im Umlauf sind. Hinweise auf die Originaltexte und ihre Namen sind hier erhalten damit man einen kleinen Eindruck davon bekommt, wie viele Texte es tatsächlich gibt, obwohl sich das Mainstream-Yogawissen leider zumeist auf einige wenige davon beschränkt.
Ich bedanke mich sehr bei den beiden Autoren, dass wir diesen ganz wichtigen, winzigen Ausschnitt über die Geschichte des Yoga hier ins Deutsche übersetzt abbilden dürfen!
Einführung
Die weltweite Verbreitung des Yoga begann Ende des 19. Jh und seine Popularität hat in den letzten Jahrzehnten weltweit enorm zugenommen. […] Mit seiner Globalisierung ging jedoch auch eine Wandlung einher: Yoga hat sich an soziale und kulturelle Bedingungen angepasst und ein Eigenleben entwickelt, dass oft weit von seinem Ursprung entfernt ist. Seither wurde der Yoga durch viele neue kulturelle Prismen wie New-Age-Religion, Psychologie, Sportwissenschaft, Biomedizin und so weiter gebrochen. Trotz seiner inzwischen weltweiten Popularität (oder vielleicht gerade deswegen) fehlt es oft an einem klaren Verständnis des historischen Kontexts in Südasien und der Bandbreite der Praktiken, die der Yoga umfasst. Dies ist zumindest teilweise auf den begrenzten Zugang zu originalem Textmaterial zurückzuführen. Ein kleiner Kanon von Texten, zu dem die Bhagavadgīta, Patañjalis Yogasūtras, die Haṭhapradīpikā und einige Upaniṣaden gehören, wird häufig im Rahmen von Yogalehrer-Ausbildungsprogrammen studiert, aber im Großen und Ganzen sind weitere Textquellen außerhalb der darauf spezialisierten wissenschaftlichen Forschung kaum bekannt. All das hat zu einer relativ engen und sehr einseitigen Sicht auf das, was Yoga ist und tut, geführt. Das wird besonders deutlich, wenn man es mit dem breiten Spektrum von Praktiken vergleicht, die in vormodernen Texten vorgestellt werden. [Anm.: genau das ist Ziel und Zweck dieses Buches, und auch dieses kleinen Auszugs]
[…]
Geschichtlicher Überblick
Yoga in Quellen der Vedischen Ära
Aus der Zeit vor etwa 500 vuZ gibt es in südasiatischen Texten oder archäologischen Quellen nur sehr wenige Nachweise für die Existenz systematischer, psychophysischer Techniken, wie sie später mit dem Wort »Yoga« bezeichnet wurden. Passagen im ältesten Sanskrit-Text, dem Ṛg Veda aus dem 15. bis 12. Jh vuZ (dem frühesten der vier Veden, der textlichen Grundlage des orthodoxen, »vedischen« Hinduismus), weisen auf die Anwendung visionärer Meditation hin. Die berühmte Hymne an einen langhaarigen Weisen (10.136) deutet auf eine mystische, asketische Tradition hin, die derjenigen späterer Yogis ähnelt. Der historisch jüngere Arthava Veda (ca. 1.000 vuZ) erwähnt in seiner Beschreibung der vedischen Gesellschaft Praktiken, die möglicherweise Vorläufer späterer yogischer Techniken der Körperhaltung und der Atem-Einhaltung sind, und die Jaiminīya Upaniṣad Brahmaṇa (ca. 800-500 vuZ) lehrt Mantra-Wiederholung in Verbindung mit einer Kontrolle des Atems. Aber es ist völlig abwegig zu behaupten, dass der vedische Korpus Beweise für eine systematische Yogapraxis liefert, wie es einige populäre Autoren über Yoga getan haben.
Erschwerend kommt hinzu, dass spätere Yogatexte, die in brahmanischem Umfeld verfasst wurden, vedische Motive aufgreifen, wie beispielsweise die Erlangung der Unsterblichkeit. Auch das Wort »Yoga« taucht bereits im Ṛg Veda auf, allerdings hier in Bezug auf einen Kriegswagen, an den Pferde angejocht wurden – »Joch« (englisch »yoke«) entspringt dem Sanskrit-Wortstamm Yoga. Diese vedische Verwendung des Wortes findet sich noch ein Jahrtausend später in dem großen Epos mit Namen Mahābhārata, wo sterbende Helden mit ihrem »Yogawagen« durch die Sonne und weiter in den Himmel fahren. Auch die Mahābhārata enthält ausführliche Anleitungen zur yogischen Praxis; und das vedische Bild des Anschirrens [an ein Joch] entwickelt sich zu einer Metapher für die soteriologische Methode [d. h. eine Methode, die zur Erlösung oder Befreiung führt]. Dennoch wäre es falsch, das gewissermaßen rückwärts gelesen als Beweis für ein ähnliches Verständnis innerhalb der Veden selbst zu verstehen. Auch das berühmte Proto-Śiva-Siegel aus der Indus-Tal-Zivilisation (die sich ab etwa 2.800 vuZ im heutigen Punjab und Sindh entwickelte) bietet – entgegen seiner weit verbreiteten Behauptung – keinen schlüssigen Beweis für eine alte yogische Kultur.
Śramaṇas
Um 500 vuZ entstanden in Indien neue Gruppen von entsagenden Asketen, die manchmal als Śramaṇas (Strebende) bezeichnet werden. Sie haben ihren Ursprung in der Region »Greater Magadha«, dem Gebiet östlich des Zusammenflusses von Ganges und Yamuna im heutigen Allahabad in Nordindien. Zu diesen Gruppen, die sich wahrscheinlich unabhängig von den brahmanischen vedischen Traditionen entwickelten, und in unterschiedlichem Maße von ihnen beeinflusst wurden, gehörten Buddhisten, Jains und die weniger bekannten Ajivakas. Sie suchten nach Wegen, den Kreislauf der Wiedergeburt (saṃsāra) und das durch Karma bedingte Leiden, das die menschliche Existenz kennzeichnet, zu beenden. Zu diesem Zweck entwickelten sie Techniken der Meditation (dhyāna). Das Ziel selbst wurde als nirvāṇa (Auslöschung) oder mokṣa (Befreiung) bezeichnet. Es beinhaltete die vollständige Tilgung von karmischen Spuren, einschließlich der Beendigung der persönlichen Identität, in einer Art dauerhaftem ontologischen Selbstmord (d.h. der irreversiblen Zerstörung des eigenen Seins). Diese Ideen tauchen zuerst in den Śramaṇa-Traditionen auf und werden erst später in die vedischen Lehren aufgenommen. Die Śramaṇas bezeichneten ihre Praktiken erst später als »Yoga«, und tatsächlich taucht die erste Erwähnung von dhyānayoga (»Yoga (durch) Meditation« oder »die Disziplin der Meditation«) in der brahmanischen Mahābhārata (300 vuZ – 300 nuZ) auf. Hier wird ausdrücklich auf Praktiken verwiesen, die mit dem Buddhismus und dem Jainismus verbunden sind. In der Folgezeit wurde der Begriff Yoga zunehmend von den Buddhisten selbst und etwas später von den Jains übernommen, um solche Meditationspraktiken zu bezeichnen.
Neben den Meditationstechniken berichten unsere frühen Quellen von Asketen, die sowohl in der Śramaṇa- als auch in der vedischen Tradition beschwerliche Praktiken ausübten, die als tapas bekannt sind (wörtlich »Hitze«, hier gleichbedeutend mit »Enthaltsamkeit«). Für die Asketen der vedischen Tradition besteht das Ziel dieser Entbehrungen in der Regel darin, einen besonderen Segen von den Göttern zu erlangen – oft einen Schutz oder eine spezielle Kraft –, während in den Śramaṇa-Traditionen der Zweck darin besteht, den Geist zur Ruhe zu bringen oder Karma aus der Vergangenheit auszulöschen. In der Mahābhārata werden Tapas-Praktizierende synonym als Yogins bezeichnet, und ihre Praktiken häufig auch als Yoga. Einige Gelehrte haben versucht, eine Unterscheidung zwischen dem frühen Yoga der nicht-vedischen Śramaṇas und den auf diesseitige Macht ausgerichteten Tapas der vedischen Weisen zu treffen. Sie behaupteten, dass letztere zwar als Yoga bezeichnet werden können, aber nicht wirklich Yoga sind, da sie nicht auf Befreiung (mokṣa) abzielen. Die Texte aus dieser Zeit zeigen jedoch, dass Asketen aller Traditionen Entbehrungen auf sich nahmen – Buddha selbst sagte, dass er verschiedene Techniken des Sterbens [vor dem Sterben] ausprobiert hat – und dass diese Praktiken neben der Befreiung auch den Erwerb übernatürlicher Kräfte zur Folge haben konnten, ob nun erwünscht oder nicht. Zusammengefasst waren Yoga und Tapas komplementäre Bestandteile der frühen asketischen Praxis – und dies ist auch heute noch so bei den asketischen Yogis im Hinduismus.
Tapas wird im Pātañjalayogaśāstra als notwendige Voraussetzung für die Yogapraxis genannt, und eine der wichtigsten Praktiken des Yoga, prāṇāyāma (Atemkontrolle), wird seit langem als tapas bezeichnet. Wir finden zwar keinerlei schriftlichen Lehren über extreme körperliche tapas-Methoden, die von Asketen praktiziert werden, wie z.B. die uralte ūrdhvabāhu-Kasteiung, bei der einer oder beide Arme über Jahre hinweg hochgehalten werden, so dass sie verkümmern. Aber die Siegel (mudrās) und Haltungen (āsanas) des haṭhayoga, die erstmals in Texten vom Beginn des zweiten Jahrtausends nuZ gelehrt werden, leiten sich anscheinend von einigen der frühen Śramana-Methoden ab. Auch das Wort haṭha selbst hat offenkundige Konnotationen des Asketismus. Viele Textlehren über Yoga können am besten als Versuche verstanden werden, Laien in Techniken zu unterweisen, die in asketischem Umfeld entstanden sind.
Die frühen Upaniṣaden
Die frühen Upaniṣaden (ca. 7.-1. Jh vuZ) sind die ersten brahmanischen Texte, die sich der Lehre von Askese und Rückzug widmen. Die früheste bekannte Definition von Yoga findet sich in der Katha Upaniṣad aus dem 3. Jh vuZ, einem Dialog zwischen dem Jungen Naciketas und Yama, dem Gott des Todes. In Anlehnung an ein aus der vedischen Literatur bekanntes Bild, das jedoch an eine Soteriologie (Erlösungslehre) der Befreiung angepasst wurde, wird eine Analogie zwischen dem Leben als Mensch und dem Lenkens eines Wagens gezogen. Der Körper ist der Wagen, das Selbst (ātman) ist der Fahrer des Wagens, der Intellekt (buddhi) ist der Wagenlenker, der Geist (manas) entspricht den Zügeln, die Sinne (indriya) sind die Pferde, und die Sinnesobjekte (viṣaya) ist all das, was von den Sinnen wahrgenommen wird. Werden die Sinne nicht unter Kontrolle gebracht, ist Wiedergeburt die Folge. Wer hingegen die Sinne mit Hilfe des Geistes kontrollieren kann, so wie ein Wagenlenker seine Pferde zügelt, derjenige wird nicht wiedergeboren. Er oder sie erlangt den höchsten Zustand, der als puruṣa, die innewohnende Person, bezeichnet wird. Das vierte, fünfte und sechste Kapitel der Katha Upaniṣad entstanden später als die ersten drei. Im sechsten Kapitel wird der Zustand, in dem die Sinne gewissermaßen gezügelt sind und man sich nicht ablenken lässt, als Yoga bezeichnet.
Die Bezeichnungen der Kaṭha Upaniṣad für die wesentlichen Elemente des Menschen entstammen der altindischen dualistischen Philosophie, die als Sāṃkhya bekannt ist. In der metaphysischen Erzählung des Sāṃkhya geraten das materielle Prinzip (prakṛti), und das spirituelle Prinzip (puruṣa), aus dem Gleichgewicht, was zu einem Zerfall [des Einen] in die [Vielfalt der] materiellen Existenz führt. Im Laufe dieses Prozesses »verirrt« sich puruṣa und identifiziert sich mit den vierundzwanzig tattvas (»Elemente« oder »Prinzipien«) von prakṛti, zu denen die Sinne, der Intellekt und der Geist sowie die gröberen Elemente gehören. Der Zustand des Menschen ist daher durch die trügerische Identifikation des Individuums mit den Elementen von prakṛti gekennzeichnet. Das Ergebnis ist Leiden und Wiedergeburt. Wie wir sehen werden, bildete dieses Modell den Rahmen für viele spätere Überlegungen zum Yoga, das sich als praktische Lösung für das ontologische Problem des Sāṃkhya entwickelte.
Lehren über Yoga in der Mahābhārata, einschließlich der Bhagavadgīta
Lehren über Sāṃkhya und Yoga sind in Indiens größtem Epos, der Mahābhārata, das wahrscheinlich Ende des 3. Jh nuZ seine heutige Form erlangt hatte, weit verbreitet. Besonders häufig finden sie sich in einem langen Abschnitt am Ende des zwölften Buches, dem Mokṣadharma, […]. Das Mokṣadharma enthält wahrscheinlich die älteste Systematisierung der Yogapraxis und ist daher eine besonders wichtige Quelle für Informationen über die frühe Praxis des Yoga. Diese umfangreichen Lehren wurden von einer Handvoll Wissenschaftler genutzt, sind aber außerhalb der akademischen Welt kaum bekannt.
Das Bhagavadgīta ist Teil der Mahābhārata und enthält bedeutende Lehren über die Praxis des Yoga, von denen einige [in der Langfassung des Buches »Roots of Yoga«] enthalten sind. Die Gīta strebt danach, die brahmanische Religion zu bekräftigen. Sie versucht, sich den Yoga aus dem Umfeld der entsagenden Asketen, aus dem er stammt, anzueignen. Gleichzeitig lehrt sie, dass der Yoga mit den weltlichen Aktivitäten vereinbar ist, die entsprechend der eigenen Kaste und Lebensphase ausgeführt werden; es geht lediglich um den Verzicht auf die Früchte dessen, was durch das eigene Handeln hervorgebracht wird.
* (Auszug aus FN7) Entgegen der weitverbreiteten Annahme lehrt die Gīta keinesfalls eine Triade aus Karmayoga (5x), Jñānayoga (2x) und Bhaktiyoga (1x). Diese drei erscheinen nirgends in textlichem Zusammenhang. Stattdessen werden viele andere Yogas (oder Methoden des Yoga) im Text erwähnt. […]
Pātañjalayogaśāstra
Das bekannteste frühe Werk des Yoga ist das Yogasūtra von Patañjali, es beinhaltet eine Reihe von einhundertsechsundneunzig kurzen Aussagen (sūtras) über yogische Techniken und Zustände. Philipp Maas hat gezeigt, dass es keine handschriftliche Überlieferung dieser Aussagen unabhängig von ihrem bhasya (Kommentar) gibt, und dass die sūtras und ihr Kommentar syntaktisch miteinander verwoben sind. Maas argumentiert überzeugend, dass wir daher die sūtras und ihren Kommentar als das einheitliche Werk eines einzigen Autors betrachten sollten, der den sūtra-Teil des Textes aus älteren Quellen irgendwann zwischen 325 und 425 nuZ zusammengestellt hat, er wird üblicherweise Vyāsa zugeschrieben. Er schlägt außerdem vor, dass der kombinierte Text mit dem Namen bezeichnet werden sollte, mit dem er im Kolophon des Manuskriptes genannt wird: Das Pātañjala-Yoga-Śāstra Sāṃkhya-Pravacana (die maßgebliche Darstellung des Yoga, die auf Patañjali zurückgeht, die verbindliche Sāṃkhya-Lehre), oder das Pātañjalayogaśāstra, wie wir es im Folgenden bezeichnen werden. Wie der Titel vermuten lässt, stammt die metaphysische Grundlage für die Ausführungen des Pātañjalayogaṣāstra zum Yoga aus dem Sāṃkhya, und der Text beschreibt praktische Methoden, um der durch Leiden und Wiedergeburt gekennzeichneten Fallen der Existenz zu entkommen. Auch der Einfluss des Buddhismus ist in dem Text offensichtlich, das Pātañjalayogaśāstra stellt einen brahmanischen Versuch dar, sich den Yoga aus den Śramaṇa-Traditionen anzueignen.
Redakteure unterteilten das Pātañjalayogaśāstra später in vier Kapitel (pādas), die sich jeweils mit den verfeinerten kognitiven Zuständen befassen, die als samādhi bekannt sind; mit den praktischen Methoden, um diese Zustände zu erreichen (sādhana, einschließlich des bekannten Yoga der acht »Glieder« oder »Hilfsmittel«, aṣṭaṅgayoga; mit den besonderen Kräften (siddhi, vibhūti), die durch die Praxis erworben werden; und mit dem Endzustand der Befreiung (kaivalya). Eine solche thematische Einteilung spiegelt jedoch nicht unbedingt den Inhalt der Kapitel wider, die sich manchmal überschneiden oder andere Themen beinhalten, als ihre Titel vermuten lassen. Das Pātañjalayogaśāstra wurde zu einer wichtigen Referenz für viele – wenn auch bei weitem nicht alle – Formulierungen des Yoga, die folgen sollten. Etwa im zwölften Jahrhundert wird Yoga mit dem Pātañjalayogaśāstra als Ursprungstext zum ersten Mal in eine Liste philosophischer Systeme (darśanas) aufgenommen, sowohl orthodoxe als auch heterodoxe. Später wurde der Text in eine Liste von sechs orthodoxen darśanas aufgenommen, die kanonischen Status erhielten. Die Stellung des Yoga als orthodoxes darśana machte das Pātañjalayogaśāstra für die frühen europäischen Gelehrten der indischen Religion zu einem Text von besonderem Interesse. Die zahlreichen Übersetzungen und Studien, die folgten, haben dafür gesorgt, dass das Pātañjalayogaśāstra, oder zumindest der sūtra-Teil davon, weltweit sowohl unter Gelehrten als auch in Kreisen der Yoga-Praktizierenden enormen Anklang gefunden hat.
Yogācāra Buddhismus
In den zwei Jahrhunderten vor der Abfassung des Pātañjalayogaśāstra entstanden die Anfänge der buddhistischen Yogācāra-Schule, deren Erkennungsmerkmal die Praxis des Yoga war. Der Yogācāra-Textkorpus war wesentlich umfangreicher als der der Patañjala-Tradition und beeinflusste auch das Pātañjalayogaśāstra. Die Bedeutung des Yogācāra-Buddhismus für das Verständnis des Yoga im Indien des ersten Jahrtausends nuZ ist in der Wissenschaft aus verschiedenen Gründen weitgehend übersehen worden, insbesondere wegen des späteren Niedergangs des Buddhismus in Indien. Wir haben uns in diesem Buch nur flüchtig mit seinen Lehren befasst, weil unser Ziel darin besteht, die Wurzeln des Yoga, wie er in Indien am Vorabend des Kolonialismus praktiziert wurde, nachzuzeichnen. Yogācāra und andere frühe buddhistische Yogatraditionen stehen nicht direkt mit dieser späteren Entwicklung in Verbindung, außer in Bezug darauf, auf welche Weise sie das Pātañjalayogaśāstra beeinflusst haben. Für das Verständnis der frühen Geschichte des Yoga ist das Studium des Yogācāra jedoch unerlässlich.
Tantra
Yoga spielte eine wichtige Rolle in einer Reihe von Traditionen – vor allem der Śaiva-, Vaiṣṇava- und buddhistischen Traditionen –, die zusammen die vorherrschende »Religion« Indiens in der Zeit vom sechsten bis zum dreizehnten Jahrhundert nuZ bildeten und die als »Tantra« bekannt geworden sind. Das Sanskrit-Wort tantra kann sich auf einen Text beziehen – viele der Texte der tantrischen Traditionen werden als Tantra bezeichnet – oder auf ‘ein System von Ritualen oder essentiellen Anweisungen’, aber in einem spezifischeren Sinne bezeichnet es eine Gesamtheit von soteriologischem Wissen, Ritualen und Praktiken, die als von der vedischen Offenbarung verschieden und mächtiger als diese angesehen werden.
[Den folgenden Abschnitt über Tantra haben wir bewusst ausgelassen, da wir hier insbesondere die Bücher, Vorträge und das Lernportal »www.tantrailluminated.org« oder Teile davon auf Deutsch »www.lichtauftantra.com« von Hareesh Christopher Wallis empfehlen …]
[vgl. auch den Blogbeitrag: Was ist Tantra?]
Haṭhayoga
Am Ende des ersten Jahrtausends nuZ tauchen die ersten Hinweise auf eine Yoga-Methode namens haṭha in Textquellen auf. Viele seiner Prinzipien und Praktiken werden zum ersten Mal in der Amṛtasiddhi, einem tantrischen buddhistischen Werk aus dem 11. Jh, gelehrt. Aber dieser Text nennt seinen Yoga nicht haṭha. Ein formalisiertes System des Yoga, das haṭha genannt wird, wird zum ersten Mal im Dattātreyayogaśāstra, einem Vaiṣṇava-Text aus dem 13. Jh, gelehrt. Die Methoden des Haṭhayoga lehnen sich an die des Pātañjala-Yoga und des tantrischen Yoga an, beinhalten aber auch körperliche Praktiken, die in beiden nicht vorkommen. Dazu gehören Reinigungstechniken, nicht sitzende Haltungen (āsanas), komplexe Methoden der Atemkontrolle und physische Methoden zur Beeinflussung der Lebensenergie (mudrās). Obwohl diese Praktiken zum ersten Mal in Haṭhayoga-Texten gelehrt werden, weisen viele von ihnen, insbesondere die āsanas und mudrās, eine große Ähnlichkeit mit asketischen Praktiken auf, die erstmals kurz nach der Lebenszeit des Buddha etwa ab 500 vuZ, erwähnt wurden. In der Tat verweist bereits der Name haṭha (gewaltvolle Kraft) auf harte Entbehrungen. Im tamilischen Tirumandiram, dessen Lehren über Yoga vielleicht zeitgleich mit denen des Dattātreyayogaśāstra oder etwas später als diese entstanden sind, wird haṭhayoga als tava-yoga bezeichnet, wobei tava die tamilische Form des Sanskritwortes tapas (Entbehrung) ist. Die Methoden des Haṭhayoga sind jedoch nicht so extrem wie viele der von indischen Asketen vorgenommenen Kasteiungen; es werden nur solche Techniken gelehrt, die auch von weltlichen Yogis angewandt werden könnten. Diese Anpassung der asketischen Methoden an ein breiteres, nicht asketisches Publikum ist wahrscheinlich der Grund für die Verfassung der Texte über Haṭhayoga.
In seiner ersten Ausformulierung, im Dattātreyayogaśāstra, wird der haṭhayoga als Alternative oder Ergänzung zu dem aus acht aṅgas (Gliedern) bestehenden Yoga im Pātañjalayogaśāstra gelehrt. In der Mitte des zweiten Jahrtausends nuZ lehrte der orthodoxe brahmanische Gelehrte Śivananda Sarasvati die Methoden des haṭhayoga neben denen des Pātañjalayogaśāstra in seinem Yogacintāmani, einem langen Kompendium von Passagen über Yoga. Im 18. Jahrhundert wurden Haṭha- und Patañjala-Yoga als ein und dasselbe angesehen, und der Aufstieg von Haṭha zur Akzeptanz durch die Orthodoxie wurde durch die Zusammenstellung eines Korpus von Upaniṣaden (später als Yoga-Upaniṣaden bezeichnet) zementiert, die in großem Umfang Anleihen bei den Texten des Haṭhayoga machten. Der Aufstieg des Haṭhayoga breitete sich ab dem achtzehnten Jahrhundert auf andere Traditionen aus, als die Jain-Gruppierung Terāpanthīs seine Praxiken in ihre Lehren aufnahmen.
Moderner Yoga
Obwohl die jüngsten in diesem Buch übersetzten Texte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, ist es erwähnenswert, dass sich der Yoga in den letzten hundertfünfzig Jahren innerhalb und außerhalb Indiens als Reaktion auf die Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse auf neue und wichtige Weise entwickelt hat. […]
Verwandlung und Anpassung waren schon immer Merkmale der Geschichte des Yoga, da konkurrierende und koexistierende Theorien und Praktiken ihren Einfluss aufeinander ausüben, wobei einige Praktiken verschwinden, während andere neue, anspruchsvolle Formen annehmen. […]
So wurde Yoga unter anderem als Psychotherapie, Philosophie, Hypnotherapie und Mesmerismus, schwarze Magie, chiropraktische Körperarbeit, Schamanismus und Sport aufgefasst.
[…]
Bis vor kurzem waren außer dem Pātañjalayogaśāstra und seinen bekannteren Kommentaren nur wenige Yogatexte Gegenstand einer strengen philologischen Forschung. Studien zum Haṭhayoga, der, wie wir oben gesehen haben, für die Entwicklung des Yoga von zentraler Bedeutung ist, waren größtenteils auf Übersetzungen von drei Texten angewiesen, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts als [wenig hinterfragte] Ausgaben veröffentlicht wurden, nämlich die Haṭhapradīpikā, Śivasaṃhitā und Gherandasaṃhitā. In einer bahnbrechenden Monographie, die 1994 veröffentlicht wurde, konnte Christian Bouy durch die Identifizierung gemeinsamer Passagen in einer Vielzahl von Haṭha–Texten zeigen, dass diese drei Texte alle aus der Zeit nach der Entstehung des Haṭhayoga stammen und verworrene und inkonsistente Zusammenstellungen von Lehren aus früheren, kohärenteren Werken darstellen. Diese früheren Werke sind erst seit kurzem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. […]