Was ist Tantra?

Was ist Tantra?

Eine längst überfällige Richtigstellung

„Tantra“ ist heute nach wie vor ein Modewort in der modernen westlichen Welt. Es begegnet uns auf den Titelseiten von Magazinen und Büchern, zumeist mit schlüpfrigen Andeutungen von sexuellen Erfahrungen der Superlative. Und obwohl inzwischen fast jeder dieses Wort kennt, weiß kaum jemand – auch diejenigen nicht, die vorgeben Tantra zu lehren – Genaueres über die historische Entwicklung der indischen spirituellen Tradition, die Sanskrit-Gelehrte und Studierende als Tantra bezeichnen. Akademische Studien zu Tantra haben wenig bis gar keine Ähnlichkeit mit dem, was unter dem gleichen Namen in Workshops der westlichen alternativen Spiritualität gelehrt wird.

Den Rahmen dieses Beitrages würde es sprengen hier zu erklären, warum diese Kluft so tief ist – sie entstand aus einer komplexen Aneinanderreihung seltsamer Missverständnisse sowie kultureller Fehl-Interpretationen. Das Buch von Christopher Hareesh Wallis, „Licht auf Tantra“ (im Original „Tantra Illuminated“), bietet hingegen einen gut nachvollziehbaren Überblick über die ursprüngliche indische spirituelle Tradition, die in den Sanskrit-Schriften namens tantras (woher der Name stammt) beschrieben wurde.

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Warum sollte uns das heute interessieren?

Es gibt einen ganz entscheidenden Grund: Millionen Menschen aus dem Westen praktizieren heute etwas, das Yoga genannt wird. Eine Praxis, die zwar in Form und Kontext stark verändert ist, aber in vielerlei Hinsicht auf die klassische tantrische Tradition zurückgeführt werden kann.

Yoga ist eine lebendige Tradition, die ganz grundlegend vom Tantra beeinflusst wurde, aber viel von seiner eigenen Geschichte vergessen hat. Seit einiger Zeit haben es sich mehrere Historiker, die auch Yoga praktizieren, zum Ziel gesetzt, Vergessenes wieder zu entdecken und neu zu integrieren, die Herkunft vieler Ideen und Praktiken aufzuklären, und die reiche und vielfältige Landschaft indischer spiritueller Denkweisen aufzuzeigen. Dies mit besonderem Blick darauf,  inwieweit solche Erkenntnisse unser heutiges Leben bereichern können. Fest steht, dass die meisten Lehren und Texte des 20. Jahrhunderts über die indische Denkweise, entweder unterhaltsam und fesselnd waren, jedoch gleichzeitig weitgehend aus dem Zusammenhang gerissen, inkohärent und unbegründet (Kontext der praxisnahen Herangehensweise). Oder aber solche Texte waren systematisch, dabei leider aber auch trocken und langweilig (Kontext der akademischen Herangehensweise). Es ist an der Zeit, dies richtigzustellen. Keine andere indische Tradition wurde und wird derart missverstanden wie Tantra, vor allem vor dem Hintergrund seiner tiefgreifenden Einflüsse auf die gesamte globale Spiritualität.

Der Begriff „klassisches Tantra“ bezieht sich auf die Blütezeit der tantrischen Bewegung (800-1100 n.u.Z.). Diese Periode unterscheidet sich sehr von dem späteren Hindu-Tantra und den Hatha-Yoga-Traditionen (beide 1100-1800 n.u.Z.), und besonders von der modernen amerikanischen Neo-Tantra-Bewegung (ca. 1905 von Pierre Bernard begründet). Das klassische Tantra, das Christopher Wallis in seinem Buch beschreibt, ist eng verbunden mit einer spezifischen religiösen Tradition, der Religion von Shiva & Shakti, die allgemein bekannt ist als Shivaismus. Shivaismus wurde überall dort praktiziert wo heute Indien ist, sowie in Nepal, Pakistan, Südost-Asien und Indonesien. Er war die dominierende Religion des mittelalterlichen Indiens (600-1200 n.u.Z.). Weiterhin gibt es die wichtige Kategorie des buddhistischen Tantra. Viele der dortigen Praktiken wurden direkt aus dem klassischen Śaiva-Tantra übernommen (wie Sanderson in „The Śaiva Age“ belegt hat). Darüber hinaus sind viele der spirituellen Lehren des buddhistischen Tantra (besonders die von Dzogchen und Mahāmudrā) kaum von den non-dualen Lehren des Śaiva-Tantra zu unterscheiden. (Eine exakte Definition von non-dualem Śaiva-Tantra (NŚT) wird in seinem Buch wie auch in weiteren Beiträgen von Christopher Wallis gegeben.)

Tantrische Schriften sind Grundlage für viele Strömungen

Eine 2015 veröffentlichte wissenschaftliche Publikation beginnt mit folgenden Worten: „Tantrische Schriften bilden die Grundlage für fast alle theistischen und rituellen Strömungen im post-vedischen Indien, ebenso wie für einen Großteil des Buddhismus (Vajrayāna). Unter diesen Schulen verbreiteten sich besonders diejenigen, die sich auf die hinduistischen Gottheiten Śiva und Viṣṇu konzentrierten; weit über den indischen Subkontinent hinaus bis hin zum Kambuja-Königreich (Kambodscha/Laos/Thailand), Champa (Vietnam) und Indonesien, während der buddhistische Tantrismus rasch pan-asiatisch wurde.” (Goodall, Sanderson und Isaacson, EFEO/IFP)

In dem Buch (Licht auf Tantra) kommt die Tatsache ein wenig zu kurz, dass bis heute eine gut sichtbare Form des ursprünglichen Tantra existiert, und das ist der tibetische Buddhismus. Da dies für die meisten Menschen die einzige Berührung mit Tantra ist, erkennen sie nicht, dass viele seiner markantesten Merkmale (mantras, maṇḍalas, mudrās, Initiation, Götter-Yoga, Guru-Yoga, u.v.m.) eigentlich nicht spezifisch für den Buddhismus sind. Sie waren vielmehr Teil der pan-indischen tantrischen Bewegung, die alle Religionen ihrer Zeit beeinflusst hat (Shivaismus, Buddhismus, Vaishnavismus, Jainismus, Saurismus, etc.).

Obwohl Tantra eine äußerst einflussreiche Wirkung auf spirituelle, religiöse und ästhetische Bewegungen hatte, überschätzen einige „Tantra-Triumphalisten“, wie Ramesh Bjonnes (er schreibt bemerkenswerte Beiträge für das Elephant Journal) seine Bedeutung und behaupten, Tantra hätte alle Formen des Yoga beeinflusst. Kein professioneller Sanskrit-Kenner würde diese Behauptung stützen. Nicht alle Formen des Yoga haben ihre Wurzeln im Tantra (es gibt viele vor-tantrische Yogas, z.B. im Yoga-sūtra und in der Mahābhārata). Tatsache ist, dass die meisten heute praktizierten Yoga-Formen auf Tantra zurückgeführt werden können, zumeist über Haṭha-Yoga als Bindeglied, dessen Texte gelegentlich zweifelsfrei auf Tantra hinweisen.

Was ist die Essenz von Tantra?

Tantra ist also eine spirituelle Bewegung, die die Entwicklung der meisten asiatischen Religionen beeinflusst hat. Aber was ist nun die eigentliche Essenz von Tantra? Woran erkenne ich, dass es Tantra ist? Wissenschaftler haben diese Frage diskutiert und statt einer einzelnen Eigenschaft eine ganze Liste von Merkmalen erstellt (s. „Licht auf Tantra“ Seite 38). Ein ganz wichtiges Element unterscheidet Tantra von allen anderen Yoga-Pfaden: Tantra ist ganz grundsätzlich lebens-bejahend statt lebens-verneinend. Der Fokus liegt auf dem Immanenten, nicht auf dem Transzendenten. Es geht darum, Yoga in den Alltag zu integrieren und nicht darum, der Welt zu entsagen. Viele anderen Formen von Yoga sind transzendentalistisch und entsagend, sie vertreten einen Welt-ablehnenden, abwertenden Charakter – es sei denn, sie sind von Tantra beeinflusst. „Transzendentalisten“ gehen davon aus, dass das Göttliche außerhalb von unserer Reichweite ist, jenseits dessen, was wir mit unseren Sinnen erfassen können. Daher wird das Leben geleugnet. Um sich mit der göttlichen Essenz zu vereinen, müssen „höhere Bewusstseinszustände“ erreicht werden. Im Gegensatz dazu lehrt non-duales Tantra, dass – obwohl das Göttliche mehr ist, als das was das Auge wahrnimmt – das Göttliche auch in allem ist, was das Auge wahrnehmen kann (oder das Ohr hören kann, usw.). Daher streben wir nicht nach höheren Bewusstseinszuständen, sondern nach einem vollständigeren Gewahrsein der Ganzheit des Seins, im Hier und Jetzt. Der tiefere Sinn des Wunders des Lebens offenbart sich in jeder Form, in jeder Wahrnehmung, jedem Gefühl und in jeder Kreatur. Tantra sagt, dass sich dieser tiefere Sinn durch spezifische Praktiken des Bewusstseins und der Verkörperung offenbart und nicht durch die bloße Absicht. Der Weg zur Erleuchtung führt nicht über das Denken, sondern er erfordert einzigartige, ermächtigende und transformative Praktiken und aktive Übungen.

Um mehr zu erfahren, lies das Buch „Licht auf Tantra“ (Tantra Illuminated) von Christopher Hareesh Wallis!  Es enthält die erste umfassende Einführung in die Philosophie und Geschichte des klassischen Tantra, die für ein allgemeines Publikum geschrieben wurde.*


~ ~ ~* Ich (Chr. W.) werde diese Behauptung unter Bezugnahme auf die drei Bücher begründen, die sich mit demselben Thema befassen. Das erste Buch, „Tantra: The Path of Exstasy“ von Georg Feuerstein bietet einen Überblick über diejenigen Elemente des Tantra, die in den Mainstream-Hinduismus eingeflossen sind – nicht über das einzigartige philosophische System des klassischen Tantra. Somit kann sein Buch als gute Einführung in die nach-klassische Zeit des Hindu-Tantra des 13. Jahrhunderts aund danach verstanden werden. Zur klassischen Tantra-Philosophie in meinem Buch „Licht auf Tantra“ bestehen zwar einige Verbindungen, aber auch ganz beträchtliche Unterschiede. Das zweite Buch ist von Kamalakar Mishra, „Kashmir Shaivism: The Central Philosophy of Tantrism“. Dieses deckt vieles über die klassische tantrische Philosophie ab, berücksichtigt jedoch nicht den sozialen Kontext der Religion, die sie hervorgebracht hat. Mishra führt das inzwischen fast hundertjährige Missverständnis fort, nachdem diese Tradition ein begrenztes Phänomen der Region von Kaschmir gewesen sein soll, wohingegen es tatsächlich eine pan-indische (vielleicht sogar pan-asiatische) spirituelle Bewegung war. Drittens gibt es von Lama Yeshe eine klassische „Introduction to Tantra“. Dieses wunderbare kleine Buch vermittelt dem Leser einen guten Einblick in die Werte, Weltsicht und Ästhetik der tantrischen Bewegung. Allerdings hält es nicht viel von Genauigkeit, weder in Bezug auf die historische Entwicklung, noch über die Details der Praxis.


Original von: © Christopher Hareesh Wallis, August 02, 2015 · Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 02.2019 von: Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA · Lektorat: Marion I. und Eva Ananya

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Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA