Egal welchem Gott du huldigst, in Wahrheit ehrst du das Bewusstsein selbst

Egal welchem Gott du huldigst, in Wahrheit ehrst du das Bewusstsein selbst

Der vorliegende Beitrag führt die Übersetzung des „Tantrāloka“ von Abhinavagupta durch Christopher Hareesh Wallis fort. Dieser Text beinhaltet eine enzyklopädische Übersicht über alle Aspekte des Tantra, verfasst vor etwa tausend Jahren auf dem Höhepunkt der tantrischen Tradition. In diesem Abschnitt erklärt Abhinava die tiefere Bedeutung, die jedem Akt von Anbetung zugrunde liegt und wie es sein kann, dass egal welche Gottheit man anbetet, nichts anderes als das Gewahrsein (Awareness) selbst verehrt wird. Dieses Argument ist außerordentlich faszinierend, denn es offenbart, dass Abhinava, obwohl er äußerst fromm war, genau genommen Atheist war (zumindest aus heutiger westlicher Perspektive betrachtet).

Abhinava baut seine Argumentation auf beeindruckende Weise durch Zitate aus der Bhagavad-gītā auf. Dieser Text hatte (und hat bis heute) stets eine hohe Verbreitung und Akzeptanz in der indischen Gesellschaft, so wurde sie beispielsweise auch von den meisten sampradāyas (Traditionslinien) anerkannt.

Der Guru lehrte [in der Bhagavad-gītā„Auch die, die anderen Göttern huldigen, [wenn] sie dies mit Glauben und Vertrauen tun, [tatsächlich] verehren sie allein Mich.“ (BG 9.23)

[Wir könnten es so übersetzen:] Wenn jemand glaubt, dass die spezifische [Gottheit] die er oder sie anbetet, etwas anderes als Gewahrsein ist, wenn derjenige das Objekt seines Gewahrseins [und seiner Hingabe] genauestens betrachtet, wird er realisieren, dass er/sie/es [in der Realität] nichts anderes ist, als Gewahrsein (bodha)|| Tantrāloka 1.124-5b

Mit anderen Worten sagt Abhinava: Jeder, der seine Gottheit verehrt – unabhängig davon, ob es Krishna oder Shiva oder Allah oder Jahwe ist – und der glaubt, dass es sich dabei um irgendetwas anderes als das reine Bewusstsein handelt, der muss sich lediglich immer mehr dem Verehrten und Angebeteten hingeben und nähern. Dann wird er mit der Zeit realisieren (sofern er wahrhaftig nach der Wahrheit sucht), dass das, worauf er sein Bewusstsein und seine Anbetung richtet, nichts anderes ist, als eine Form des eigenen Gewahrseins. Diese kann gerade deshalb einen göttlichen Archetypus erhalten, ein solches mysterium tremendum [gr.-lat. „Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöst“], weil Gewahrsein selbst göttlich ist, das bedeutet, vollkommen unbegrenzt in seiner wahren Natur. 

Abhinava’s Kommentator Jayaratha stärkt dieses Argument mit einem wunderschönen und verblüffenden Vers aus einer inzwischen für uns verloren gegangenen Quelle: 

Verstehe, dass alles was zu Wissen möglich ist auf einen Modus des Wissens reduziert werden kann; und Wissen ist ein Aspekt von Gewahrsein/Bewusstsein. Du bist Gewahrsein; wenn dies wahr ist, dann besteht diese Welt [bestehend aus dem was man wissen kann] aus nichts anderem, als aus dir. ||

Anders ausgedrückt: Jedes erfahrbare Objekt kann nur dadurch erkannt werden, wie es sich im Bewusstsein manifestiert und somit als eine Form von Gewahrsein. Weil Gewahrsein die treffendste Analogie zu etwas wie dem Selbst ist, und weil die erkennbare Welt aus Objekten des Gewahrseins besteht, deshalb ist es absolut korrekt zu behaupten, dass die Welt aus nichts anderem besteht als aus dir. Diese Aussage ist nicht in einem solipsistischen Sinne zu verstehen (die Welt ist eine Projektion deines Geistes), da du nicht dein Geist bist, sondern vielmehr ein Feld von Gewahrsein welches beides umfasst und bereitstellt, den Geist und das was der Geist erkennt. Abhinava fährt fort:

Da dies [Bewusstsein] selbst-offenbarend ist und weil es die Manifestation eines „Ich-Seins“ ist, welches aus Gewahrsein besteht und intrinsisch unteilbar ist [weder durch Zeit, Ort, Form o.ä.], kann diesem keine rituelle Regel vorausgehen, [denn jegliche Regel bzw. Formen von Ritual oder Kult] sind ihrerseits Schöpfungen [des Bewusstseins]. || 125

Im Gegensatz zur Meinung von vedischen Ritualisten kann das „Ich“ (das in Wahrheit nichts anderes ist als die Kraft des Bewusstseins) nicht an Regeln gebunden werden, die vorschreiben, wo und zu welcher Zeit welcher Ritus ausgeführt werden soll, denn das Gewahrsein-Selbst ist diesen übergeordnet und unteilbar durch Ort, Zeit und Form. Das bedeutet, das Bewusstsein kann solche Unterscheidungen wahrnehmen, ist aber intrinsisch nicht durch diese limitiert oder definiert (was sich durch unsere Fähigkeit zeigt, bewusste Erfahrungen von Zeit- und Formlosigkeit zu erleben). Doch nun wird Abhinava noch radikaler: 

Sogar Gottheiten selbst sind Projektionen [von Gewahrsein], denn auch diese sind erfahrbare Entitäten die einer Ursache entstammen, nämlich der Kraft (power[von Gewahrsein, citi-śakti]. Dieses Bewusstsein (samvittiist ganz einfach das [grundlegende, nicht-konzeptionelle, wortlose] ‘Ich-Gefühl’, allgegenwärtig und selbst-offenbarend. || 126

Anders ausgedrückt, die Gottheit die du verehrst, ist nichts anderes als du selbst. Dies ist auf verschiedenen Ebenen wahr: Zum Beispiel die Art und Weise wie du dir die Gottheit vorstellst, ist durch deine kulturelle Konditionierung und psychologischen Bedürfnisse geprägt. Auch auf einer noch fundamentaleren Ebene, selbst wenn du eine direkte Gott-Erfahrung erlebst, ist dieses Erlebnis schlichtweg ein Ausdruck innewohnenden Potenzials des Bewusstseins selbst. Welche Qualitäten auch immer diese mystische Erfahrung mit sich bringt, sie sind Ausdruck des Potenzials welches dem Gewahrsein innewohnt. Und dieses Gewahrsein ist allgegenwärtig als der unmittelbare Sinn deines eigenen Seins.

Was sind nun die Auswirkungen solch einer Argumentation für eine Kultur, in der Rituale so tief verwurzelt waren (und bis heute noch sind), wie in der indischen Gesellschaft?

Rituelle Regeln sind Vollmachten, deren drei Aspekte [wie durch vedische Exegeten analysiert] erschaffen wurden [durch Gewahrsein in seinem kontrahierten und konditionierten Zustand] um [religiöse Aktivität] zu erzwingen. Diesen [vedischen] Göttern, Indra und so weiter, [durch Anerkennung der o.a. Exegeten] sind [vedische] Anordnungen vorausgegangen [auf welche Weise ihnen zu huldigen sei][und ihre Existenz] wurde ausschließlich durch diese [Regeln] etabliert. || 127

Hier nutzt Abhinava sehr gewitzt die eigenen Argumente vedischer Exegeten (Fachleute zur Auslegung der Schriften), um sie zu widerlegen. Diese behaupten, dass die Veden chronologisch und ontologisch (die Lehre des Seins betreffend) der Schöpfung der bekannten Welt einschließlich all ihrer Götter vorausgegangen seien.

Er fährt fort: 

Aber ‘Ich-Gewahrsein (aham-bodhaist nicht wie dies [denn es ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis und jede Handlung]. Diejenigen, die fortfahren lediglich die spürbaren Aspekte [von Gewahrsein] als primär anzusehen [realisieren nicht, dass] obwohl sie Es spüren daran scheitern, Es zu wissen. [Aus diesem Grunde sagte der Guru] „Sie erkennen Mich nicht so wie ich wirklich bin; und deshalb sind sie verwirrt und gehen verloren.“ (BG 9.24) || Nun, „verloren gehen“ bedeutet, einen begrenzten & trennenden Zustand zu erlangen. Also lehrte er: „Diejenigen die Götter anbeten, gehen zu den Göttern, diejenigen die mich verehren, kommen zu Mir.“ (BG 7.23) || 128-130

Mit anderen Worten, die meisten Menschen sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht: Obwohl sie niemals etwas anderes sehen als eine Form ihres eigenen Gewahrseins, objektivieren sie diese Formen. Sie nehmen an, diese Formen seien von ihnen getrennte und unabhängige Wesenheiten. Um dieses Argument zu unterstreichen, zitiert Abhinava die Worte Krishnas, als die Stimme des fundamentalen Gewahrseins selbst. Der wahre Grund der Verwirrung im Leben, dem Gefühl verloren, begrenzt, allein zu sein, besteht darin, dass wir unsere wahre Natur nicht erkennen („sie erkennen Mich nicht wie Ich wirklich bin“). Krishna impliziert sogar (im zweiten Zitat oben) dass er kein Gott ist, sondern etwas anderes, nämlich Gewahrsein selbst. Nun kommen wir zum entscheidenden Argument:

Diejenigen aber, die die [trügerische] Natur von Objektivität erkennen, wissen um die Realität von Bewusstsein, [sogar] im Kontext [von offensichtlich eigenständiger Gottheit][und daher] „kommen sie zu Mir“ [bedeutet, das wahre ‘Ich’ zu erlangen], auch wenn sie diese [Gottheiten] verehrenÜberall in dieser [Schrift] bedeuten die Worte ‘Ich’ oder ‘Mich’ nichts anderes als Gewahrsein. || 131-132a

Mit einem brillanten hermeneutischen Schachzug lädt uns Abhinava ein, die Gītā auf eine grundlegend andere Art zu lesen, was einer Umdeutung des gesamten Textes gleich kommt. Überall dort wo Krishna von ‘Ich’ oder ‘Mir’ spricht (was häufig vorkommt), können wir dies aus einer Perspektive der Ich-Form betrachten. Denn ‘Ich’ ist das Personal-Pronomen der ersten Person, also sollten wir es genauso lesen! Krishna spricht als die Stimme unseres eigenen Gewahrseins, unserer Wesensnatur, unseres fundamentalen Seins. Was wäre, wenn wir andere religiöse Texte auf die gleiche Art lesen würden? Zum Beispiel könnten wir das erste Personal-Pronomen auf das überlieferte Wort Jesu anwenden in dem er sagt: „Niemand kommt zum Vater denn durch Mich“?

Abhinava argumentiert, dass diejenigen die die Vorstellung überwinden, dass ihr Gott ein Objekt des Bewusstseins getrennt von ihnen selbst ist, plötzlich erkennen, dass ihr Gott ein Spiegel, ein Bild ihrer eigenen Wesensnatur ist. Abhinava stellt heraus, dass Krishna genau dies annimmt:

Zum Beispiel, mit den Worten ‘[Ich bin] der Wahrnehmende’ und ‘[Ich bin] der Herr’ (in BG 9.24) zeigt er an, dass der Opfernde wie auch der zu dessen Ehren geopfert wird [beide Aspekte eines einzigen Bewusstseins sind]. || 132b

Weil, so sagt Krishna, ‘Ich’ bezeichnet beides, den Verehrenden ebenso wie den Verehrten, daher ist jegliche Form der Verehrung schlichtweg ein sich-selbst-verehren des Einen. 

Was [wahrhaft] gesagt wird [hier in der Gītāist, dass das Gewahrsein des Verehrenden selbst nichts anderes ist, als das Gewahrsein dessen der/die verehrt wird. Es gibt keinerlei wie auch immer geartete [göttliche] Form, die etwas anderes ist als [Gewahrsein], weil [wenn es das gäbe] könnte man es nicht eine ‘Gottheit’ nennen [gemäß der o.a. Definition]|| 133

Wenn du innehältst und darüber nachdenkst, wie kannst du tatsächlich an eine Gottheit glauben, die außerhalb deines eigenen Gewahrseins existiert? Solch eine Gottheit wäre kaum mehr als eine mentale Abstraktion. Und auch diese Abstraktion wäre nichts anderes, als ein Aspekt deines Gewahrseins. Es spielt keine Rolle, wie erhaben oder pathetisch deine Vorstellung oder auch deine Wahrnehmung des Göttlichen ist – es kann nichts anderes sein, als eine Manifestation deines eigenen Gewahrseins. Du kannst nicht außerhalb deines Gewahrseins sein. Allerdings ist es hier ganz entscheidend, Geist/Vorstellungskraft/Verstand (mind) und Gewahrsein (awareness) nicht miteinander zu verwechseln. Diese Auffassung behauptet keineswegs, dass alles ein Hirngespinst der eigenen Vorstellungskraft sei. Das göttliche Gewahrsein, das alles im Universum hervorbringt – Bäume, Berge, Galaxien, Insekten – ist auch der Urgrund deiner Vorstellungskraft. Geist (mind) ist eine von vielen Manifestationen des Bewusstseins, nicht ihre Quelle.

Deine Vorstellungskraft, deine Gedanken und alles was du ‘objektiv’ wahrnimmst, ist alles gleichermaßen eine Manifestation des Einen. Und die tiefe Wahrheit ist: du bist das Eine.

Du bist nicht irgendein Konzept des Einen. Du bist nicht deine Idee des Einen. Du bist das Eine, aus dem Konzepte, Ideen und Erfahrungen heraus strömen.


© Christopher Hareesh Wallis · 29. Juli 2018 · Link zum Originaltext

deutsche Übersetzung aus dem englischen mit freundlicher Genehmigung durch Hareesh: (05.2019)  Brigitte Heinz · Lektorat: Eva Ananya · Meme: Brigitte Heinz

(Abhinavagupta: Tantraloka, Kap 1)

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