Naher Feind #4: Negative Energie, gibts die?

Naher Feind #4: Negative Energie, gibts die?

Die nahen Feinde der Wahrheit #4: Negative Energie

Das Wort „Energie“ wird heutzutage auf viele verschiedene Arten verwendet, vor allem in Gemeinschaften, die sich selbst als spirituell betrachten. Es wird oft als Synonym für „Vibe“ verwendet, oder in Kontexten wie: „jmd. hat eine wirklich schöne Energie“; „ich liebe die Energie deines Heims!“ Es wird auch oft in demselben Sinne verwendet, in dem Menschen früher das Wort „Magie“ benutzten: um eine unbekannte Art von Kraft oder Macht zu bezeichnen, die etwas in der realen Welt bewirken kann – obwohl die moderne Wissenschaft nicht in der Lage ist, ihre Existenz nachzuweisen – wie z.B. im Bereich der „Heilenergie“. Magisches Denken ist in unserer Gesellschaft nach wie vor weit verbreitet und wird oft sogar von Menschen vertreten, die leugnen, an Magie zu glauben. Und da es im Paradigma des magischen Denkens so etwas wie „positive Energie“ gibt, die in der realen Welt positive Auswirkungen haben kann, muss es auch etwas geben, das „negative Energie“ genannt wird und in der realen Welt schädliche Auswirkungen haben kann. Die vormodernen Entsprechungen dazu finden sich nicht nur in westlichen magischen Traditionen, sondern auch im alten chinesischen Denken, das lehrt, dass es so etwas wie „negatives Qi“ gibt.

Die Wissenschaft ist eine Methode, um die Dinge tiefer zu erforschen und herauszufinden, ob die Art und Weise, wie wir über etwas denken, nachweislich in der Realität begründet ist. In diesem Sinne ist Wissenschaft durchaus mit kontemplativer Spiritualität vereinbar. Auch wenn  Wissenschaft oft unzureichend angewendet wird, was in erster Linie auf ungenügende Anreize seitens der Wirtschaft zurückzuführen ist, bedeutet das nicht, dass wissenschaftliche Methoden an sich ungültig sind. Tatsächlich ist sie das mächtigste Werkzeug, das die Menschheit als Kollektiv je entwickelt hat. Wenn ich das imaginäre Konzept von „negativer Energie“ kritisiere, gehe ich von einer Perspektive aus, die auf den Standards des kritischen Denkens der wissenschaftlichen Methode basiert (wir werden dies in einem gesonderten Kapitel über „Energieheilung“ näher untersuchen).

Zunächst müssen wir klären, was wir mit ‘Energie’ meinen. Es gibt nur eine Definition, die gleichermaßen für physikalische wie auch für spirituelle Zusammenhänge gilt: ‚die Kraft/Fähigkeit (power), Arbeit zu verrichten’, oder ‚die Kraft zur Transformation’. (Dies ist auch die Bedeutung des Sanskrit-Äquivalents des Wortes Energie, nämlich śakti.)

Es ist essenziell zu verstehen, dass Energie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch kein Ding ist, sondern ein Attribut von (einigen) Dingen. Es ist eine Eigenschaft eines Objekts oder eines Systems, die es diesem ermöglicht, Aktionen mit nachvollziehbaren Ergebnissen auszuführen. Die Energie, die dir durch Nahrung zur Verfügung steht, ermöglicht es dir zum Beispiel, einen Gegenstand zu heben oder den Satz zu verstehen, den du gerade liest. Unbelebte Dinge verfügen ganz allgemein über potenzielle Energie, wie z.B. die potenzielle kinetische Energie eines schweren Gegenstands, der auf einem hohen Regal steht: Wenn er aus dem Regal fällt, hat er die Kraft, deinen Fuß zu zerquetschen. Die potenzielle Energie ist nichts Magisches oder Geheimnisvolles, sie ist messbar.

Ist: „Energie = die Kraft, Arbeit zu verrichten“, was würde dann „negative Energie“ bedeuten? Es könnte sich hier nur um eine noch unbekannte Kraft handeln, die auf irgendeine Art und Weise deine Energie drosselt, die deine Arbeitskraft reduziert – sei es physische, emotionale oder spirituelle Arbeit. Manche Leute glauben, dass andere eine derart schändliche Kraft besitzen: Verbringt man Zeit mit solchen ‚negativen Menschen’, so schwindet deine prāṇa-śakti, also deine Lebens-Energie. Ich (Hareesh) behaupte, dass solche Annahmen falsch sind. Der Grund dafür, dass du dich durch manche Menschen ausgelaugt fühlst, besteht darin, dass du keine gesunden Grenzen für dich selbst ziehst, und das erschöpft dich.

Das ist eine wichtige Lehre: Eine Person (oder sogar einen Ort) mit dem Etikett „negative Energie“ zu versehen, ist eine Möglichkeit, die Verantwortung für den eigenen inneren Zustand zu vermeiden. Ich behaupte sogar, dass ein Wechsel dieses Paradigmas für das eigene spirituelle Leben entscheidend ist. Anstatt zum Beispiel der anderen Person die Schuld dafür zu geben, dass sie dich auslaugt, könntest du die Verantwortung dafür übernehmen, dass du dich ausgelaugt fühlst, indem du ihr/ihm die Wahrheit über deine Erfahrungen sagst Wie z.B.: „Es tut mir leid, aber ich habe gerade jetzt weder die Zeit noch die Energie um dir zuzuhören“, oder „Ich bin dir wirklich verbunden, aber ganz ehrlich, ich brauche gerade etwas mehr Abstand in dieser Beziehung“, oder was auch immer gerade der Wahrheit entspricht. Du selbst entscheidest, wie viel Zeit und Energie du jemandem schenkst. Du entscheidest, ob du eine Grenze setzt oder nicht. Du bist derjenige, der über die eigenen Gefühle spricht und die eigenen Bedürfnisse ehrt. Und solltest du jetzt sagen: „Aber ich fürchte, andere werden verärgert sein oder mich verurteilen, wenn ich Grenzen setze und meine wahren Bedürfnisse ausspreche“ – nun, dann ist genau das deine spirituelle Arbeit. Du ehrst dich selbst nicht, wenn du keine gesunden Grenzen ziehst bevor du dich ausgelaugt und erschöpft fühlst; und ebensowenig ehrst du die andere Person, wenn du ihr nicht die Wahrheit sagst. Sei dir hier darüber im Klaren: Es ist niemals ein anderer Mensch, der dich auslaugt, das bist ganz alleine Du! Die Verantwortung dafür, für dich selbst zu sorgen, liegt bei dir.

Natürlich kann es vorkommen, dass bestimmte Menschen deine samskāras triggern, jene Überbleibsel unverdauter vergangener Erfahrungen, die in deiner Psyche schlummern. Und wenn du nicht die emotionale Reife hast, solche samskāras angemessen ‚zu verdauen’, dann fühlt sich das ziemlich ermüdend an. Auch in diesem Fall stellt die Beschuldigung eines anderen eine verpasste Gelegenheit dar, wertvolle innere Arbeit zu leisten.

Oder jemand äußert ‚negative Gedanken’, die ablehnend, verunglimpfend, verächtlich oder pessimistisch sind. Neigst du ohnehin dazu, solchen Gedanken Glauben zu schenken, dann ist es für deine geistige Gesundheit sicherlich besser, nicht mit solchen Menschen zusammen zu sein. Wie auch immer, die Verantwortung liegt bei dir. Selbst wenn die Sprache und das Verhalten der anderen Person absolut verwerflich sind, liegt dein innerer Zustand immer noch in deiner Verantwortung. Und du ermächtigst dich selbst, indem du diese Verantwortung anerkennst. Dieses Prinzip wird in allen Zweigen der Yogatradition gelehrt.

Im wörtlichen Sinne gibt es weder ‚negative Energien’, noch gibt es so etwas wie ‚Energie-Vampire’. Letzteres bezieht sich auf ein bedürftiges menschliches Wesen das gewillt ist, alles zu nehmen, was du geben willst. Es besteht kein Grund denjenigen deshalb zu dämonisieren. Dein Job besteht darin, deine Ressourcen zu achten, nicht seine. Allerdings ist es völlig O.K. so etwas zu sagen wie: „… bitte frag mich doch künftig, wie viel Zeit ich für unsere Unterredung aufbringen kann. Ich mag es nämlich nicht, wenn ich dich unterbrechen und dir eine Grenze setzen muss, um mich um mich selbst zu kümmern.“

Seltener wird der Begriff „Energievampir“ verwendet, um eine äußerst charismatische und überzeugend manipulative Person zu bezeichnen, der man nur schwer widerstehen kann. Es ist wichtig und gesund, solche Menschen zu meiden. In vielen Ländern gibt es jedoch noch Menschen, die an buchstäbliche Energievampire glauben, die dir durch eine Art schwarzer Magie die Lebenskraft entziehen können, auch aus der Ferne. Alle verfügbaren Beweise deuten darauf hin, dass diese Dinge nur dann Auswirkungen haben können, wenn du daran glaubst. Man nennt dies den „Nocebo-Effekt“ (eine umgekehrte Version des Placebo-Effekts). Das heißt, die Wirkung geht von der eigenen Psyche des angeblichen Opfers aus.


Doch dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamtbild. Heutzutage wird der Begriff ‚negative Energien’ oft synonym für negative Emotionen verwendet. Es wird dich vielleicht überraschen, wenn ich sage, dass es so etwas wie eine negative Emotion nicht gibt. Das heißt, Emotionen können nicht per se negativ oder positiv sein, auch wenn wir sie zumeist entweder als als angenehm oder unangenehm empfinden. Zumindest ein Teil dieser bevorzugten Unterscheidung beruht auf unserer Konditionierung (insbesondere auf dem Einfluss des Umfelds in der Kindheit); so können beispielsweise dieselben physiologischen Empfindungen sowohl als Aufregung als auch als Angst interpretiert werden. In beiden Fällen wird einfach nur Cortisol ausgeschüttet, wir erleben die Emotion als angenehm oder nicht. Wie Lisa Feldman Barrett argumentiert, sind Emotionen nichts anderes als interpretierte physiologische Empfindungen. Sie sind an sich weder negativ noch positiv, auch wenn es uns vielleicht leichter fällt, einige davon produktiv zu kanalisieren als andere.

Es gibt drei Arten von Emotionen, die du wahrscheinlich als negativ einstufst:

  • Emotionen, die du als unangenehm empfindest;
  • Emotionen, die schwer zu handhaben sind oder mit denen du nichts Sinnvolles anfangen kannst;
  • Emotionen, die du als auslaugend oder erschöpfend empfindest.

Fangen wir mit dem letzten Punkt an. Sind Emotionen selbst jemals ermüdend? Die nonduale tantrische Tradition sagt nein. Emotionen sind Energie, und Energie ist immer belebend. Allerdings kann es durchaus den Anschein haben, dass es die Emotion ist, die einen erschöpft. Tatsächlich sind wir erschöpft, wenn wir einem Gedanken Glauben schenken, der bestimmte Emotionen hervorrufen kann (und dies auch oft tut). In diesem Szenario sehen wir fälschlicherweise die Emotion als das Problem an, während in Wirklichkeit die wahre Ursache unseres Leidens der Glaube an den Gedanken ist, der hinter der Emotion steht und diese verursacht.

Der Glaube an bestimmte Gedanken oder Stories, insbesondere wenn sie entmachtend sind, sich selbst verunglimpfend oder hasserfüllt, führt zu dem, was wir manchmal ein Energie-Leck nennen. Wenn du den zugrundeliegenden negativen Gedanken identifizieren und ihn als solchen erkennen kannst, dann kannst du vielleicht aufhören, ihm Glauben zu schenken, zumindest vorübergehend. Dann stellst du fest, dass die Emotionen, die dieser Gedanke auslöst, sich verflüchtigen und durch ein Gefühl von großer Freiheit, Offenheit oder Ruhe ersetzt werden.

Natürlich werden nicht alle Emotionen durch eine Geschichte ausgelöst, es geht auch andersherum: Eine natürlich aufkommende „rohe“ Emotion erzeugt einen Gedanken; hier führt die Beseitigung des Gedankens (indem man aufhört, ihn zu glauben) nicht dazu, dass die Emotion verschwindet. Diese Art von Emotionen sind von Natur aus Teil unserer Lebendigkeit. Auch wenn wir sie gemeinhin als „negativ“ bezeichnen (z.B. Wut oder Traurigkeit), ist eher kathartisch als erschöpfend wenn wir sie vollständig fühlen und erfahren. Diese Emotionen verschwinden nicht, selbst wenn wir völlig frei von Geschichten werden – und das würden wir auch nicht wollen.

Betrachten wir einige Beispiele. Glaubst du eine Geschichte, wie z.B. „er/sie versucht, mich zu sabotieren“, erzeugt dies wahrscheinlich Wut. Der Gedanke „er/sie liebt mich nicht“, wird vermutlich Traurigkeit erzeugen. Es ist nicht der Gedanke selbst, der die Emotion erzeugt, sondern die Tatsache, dass wir daran glauben. Daher wird die Emotion schnell abklingen, wenn wir solchen Gedanken keinen Glauben Schenken (was nicht bedeutet, dass wir das Gegenteil annehmen!). Vielleicht wird eine Emotion gar nicht durch eine Story ausgelöst, sondern nur durch diese verstärkt; in diesem Fall wird eine Distanzierung vom Gedanken allein wenig Erfolg haben. Z.B. „Ich weiß dass die Annahme ‚er liebt mich nicht’ nicht stimmt, aber ich bin wirklich traurig, dass er nach vier Tagen immer noch nicht angerufen hat“. In so einem Fall ist es notwendig, die Emotion zu ‚verdauen’, um Zugang zu deren Energie und lebensfördernden Kraft zu erlangen.

Ich werde den Prozess der emotionalen Verdauung kurz erläutern. Wenn möglich, leg die Überzeugung ab, dass die betreffende Emotion negativ, schlecht oder falsch ist, oder dass etwas daran falsch sei, so zu fühlen. Es kann sein, dass du dich mit dem Gefühl immer noch unwohl fühlst, und das ist in Ordnung. Du musst es nicht mögen, traurig oder frustriert oder was auch immer sein. Bestätige dir selbst im Brustton der größtmöglichen Überzeugung: „Es ist in Ordnung, traurig zu sein“ (oder wütend oder ängstlich oder was auch immer) und lass dich ganz auf das Gefühl ein. Holen es ganz nah heran. Lass es ganz hinein. Und lass es durch das Zentrum deines Wesens hindurchgehen. Das Gefühl wird sich dadurch zunächst verstärken und dann wirst du eine Art Befreiung spüren – nämlich wenn die Emotion zu reiner Energie wird. Dies kann in einer oder mehreren Wellen geschehen. Auf diese Weise verdaust du die Emotion und verwandelst sie in Lebendigkeit. Die Emotion wird zu Intensität, weder gut noch schlecht, und die Intensität wird zu Lebendigkeit. Diese Lebendigkeit kann dann auf vielfache Art und Weise ihren Ausdruck finden.

Die Menschen sagen bei starken Emotionen: „Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll“, aber das ist auch gar nicht dein Job. Deine Aufgabe ist es, die Emotionen zu verdauen. Und das tust du, indem du die damit verbundene Geschichte (falls es eine gibt) abstreifst und die Emotionen ganz herein- und durchlässt.

Dem Tantrik Yoga zufolge befindet sich in der Mitte unseres Seins so etwas wie eine Energieachse (die das Herz mit dem Bauch und der Kehle verbindet) die emotionale Energien durchlaufen müssen, um vollständig verdaut zu werden, und so entweder integriert oder losgelassen zu werden. Wir verwenden die Metapher der „Verdauung“, weil sich wie bei der Verdauung von Nahrung, ein Teil der Emotion in reine Energie oder Lebendigkeit umwandelt und ein Teil aus dem Körper freigesetzt wird. Verdauung ist also in diesem Sinne ein Prozess der Integration und der Freisetzung. Aus dieser Sicht ist es wichtig, so genannte negative Emotionen nicht einfach loszulassen (wie es so viele spirituelle Lehrer empfehlen), sondern sie zu verdauen, damit sie zu unserer Lebendigkeit beitragen.

Wenn es gelingt Emotionen zu verdauen, erhältst du den direkten Beweis, dass jede Emotion – egal wie ‚negativ’ sie auch sein mag – deine gesamte Lebendigkeit fördert und die Lebens-Freude verstärkt. Ein Komiker (Louis C.K.) erkannte, wie er seine Traurigkeit verdauen kann: „Ich habe Glück, dass ich traurige Momente erleben darf.“ Diese Art von Dankbarkeit ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Verdauung von Emotionen.

Wenn du also zugibst, dass keine deiner Emotionen im eigentlichen Sinn negativ ist, so gilt dasselbe auch für jede:n anderen. Vermutlich fühlt sich das aber ganz anders an, wenn jemand seine emotionalen Energien um sich schleudert oder auf dich richtet! Was dann?

Wir kommen nun zu einem der aufschlussreichsten Aspekte dieser Lehre. Für einen spirituell Praktizierenden das so etwas wie eine goldene Gelegenheit. Öffne schwungvoll die Türen deines Herzens (Vorder- und Hintertür) und lass all diese Energie durch dich hindurch strömen, erlaube ihr, deine Lebendigkeit zu verstärken! (Zeige vielleicht nicht allzu offensichtlich, wie sehr du das genießt.) Es ist völlig egal, was es ist: Alle emotionalen Energien, sogar Ärger und Hass, verstärken deine prāṇa-śakti. Wenn Emotionen Energie sind, dann haben sie per Definition die Macht, etwas zu tun.

Wenn du Tantrik Yoga praktizierst, ist jede emotionale Energie, die zu dir fließt, ein Geschenk. Nichts muss ausgesperrt werden. Diese Lehre ist für viele Menschen zunächst überraschend, und sie erfordert oft einen inneren Paradigmenwechsel. Manche stellen sich vor, dass es eine sehr fortgeschrittene spirituelle Praxis sein muss, offen zu bleiben für alles, was einem zuströmt, und es in die Energie der Lebendigkeit umzuwandeln. Aber es ist weniger schwierig, als du vielleicht denkst.

Was diese Praxis schwierig oder sogar unmöglich macht, ist, wenn du die Geschichte glaubst, die die andere Person dir mit ihrem emotionalen Ausdruck aufdrücken will. Wenn die Geschichte der anderen Person voller Schuldzuweisungen und verunglimpfender Aussagen ist und du einen dieser Gedanken glaubst, dann kann die Energie stecken bleiben, anstatt durch dich zu fließen und deine Lebendigkeit zu verstärken. Das kann sich anfühlen wie ein Dolch in deinem Herzen. Aber seien wir uns darüber im Klaren: Es fühlt sich nicht so an, weil die andere Person dir das antut, sondern weil du auf irgendeiner Ebene ihre Geschichte glaubst. Du kannst nicht durch Worte oder Gefühle verletzt werden, ohne dass du aktiv daran beteiligt bist.

Wenn der Prozess des spirituellen Erwachens einen bestimmten Punkt erreicht, entdecken wir, dass wir die Wahl haben, an einen Gedanken oder eine Story zu glauben, oder nicht. Hast du diesen Punkt erreicht, wird die soeben beschriebene Praxis leicht zugänglich, und der ganze Charakter deines Lebens ändert sich. In der Zwischenzeit kannst du dich darin üben, deinen Gedanken und Geschichten zunehmend weniger Glauben zu schenken. Diese Arbeit ist niemals umsonst, denn sie macht es leichter, die Gedanken anderer als Gedanken und nicht als Wahrheiten zu sehen, und sie bringt dich zu dem Punkt, an dem du fast immer die Wahl hast, ob du einen Gedanken glaubst oder nicht – deinen eigenen oder den eines anderen Menschen. Ein Gedanke, der als das gesehen wird, was er ist, hat keine Macht über dich.

Dann stellst du fest, dass du jegliche emotionale Energie eines anderen völlig schadlos empfangen kannst. Sie haben keine Macht, dich leiden zu lassen, und das ist sehr befreiend. Darüber hinaus kannst du ihre Traurigkeit oder Wut oder was auch immer empfangen und sie zu deiner Lebendigkeit beitragen lassen. Wenn es dich berührt, kannst du etwas von dieser Energie in Form von Liebe oder Mitgefühl zurückgeben.

Wenn die andere Person über dich urteilt, denk daran, dass hinter jedem Urteil ein Gefühl steckt, meist Wut, Trauer oder Frustration. Du kannst das Urteil der anderen Person zurückweisen und dennoch empathisch sein. Diejenigen, die sich Sorgen machen, dass sie ,Energien von anderen übernehmen könnten‘, machen sich genau die falschen Sorgen. Wenn du lernst, die Geschichte der anderen Person nicht zu übernehmen, wird deren emotionale Energie zu einer potenziellen Quelle der Lebendigkeit, die du empfangen und durch dich hindurchgehen lassen kannst. Wenn es wirklich nichts mit dir zu tun hat, wird es einfach durch dich hindurchgehen und dabei deine Erfahrung von Lebendigkeit verstärken. Wenn es etwas mit dir zu tun hat, wird es deine eigenen Emotionen auslösen, die du verdauen musst (wovon du profitieren kannst). So oder so, die Energie der anderen Person zu übernehmen ist in den meisten Fällen ein imaginäres Problem das gar nicht existiert. Einige Leser werden das Gegenteil glauben, diese lade ich dazu ein, es auszuprobieren: sowohl frei von Geschichten als auch ein offener Kanal für den freien Fluss der emotionalen Energie zu werden. Ich möchte wetten, dass die Erfahrung, die Energie anderer Menschen zu „übernehmen“, einfach verschwindet.

Dennoch wird es manchmal vorkommen, dass eine Interaktion dich verletzt, selbst wenn du der anderen Person ihre Geschichte nicht abkaufst oder ihre im Zorn geäußerten Gedanken über dich nicht glaubst. Der Schmerz, den du empfindest, ist einfach eine natürliche Trauer darüber, dass die andere Person selbst so sehr verletzt ist, dass sie nicht in der Lage ist, liebevoll oder respektvoll zu sein. Diese Trauer ist natürlich und normal, aber du musst sie erst einmal verdauen. Du kannst diesen Prozess nicht umgehen, indem du die Schuld auf den anderen schiebst. Dennoch empfehle ich dir natürlich, dich aus jeder Beziehung zurückzuziehen, die mehr Schmerz oder Trauer verursacht, als du verdauen kannst.

Das wirft die Frage auf, wie sich das hier dargelegte Paradigma in engen oder intimen Beziehungen auswirkt. Das ist ein großes Thema, das wir hier nur kurz anreißen können. Nach meiner Erfahrung müssen die Menschen vor allem lernen, einander wirklich zuzuhören. Dazu gehört, dass man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, alles andere beiseite lässt und die ehrliche Absicht hat, zuzuhören. Noch mehr erfordert es, vorübergehend damit aufzuhören, sich zwanghaft auf sich selbst zu beziehen (mit Fokus auf sich selbst und seine Gedanken und Geschichten); dass man vorübergehend damit aufhört, sich gegen die vermeintlichen Urteile der anderen Person zu verteidigen, oder glaubt, deren Version der Geschehnisse korrigieren zu müssen. Denn solange du eines dieser Dinge tust, hörst du nicht wirklich auf das, was in der anderen Person lebendig ist, und es ist unwahrscheinlich, dass du eine echte Verbindung oder Lösung erfährst.

Wenn möglich, nimm beim Zuhören eine Haltung liebevoller Neugier ein. Lass dich darauf ein, was wirklich im Inneren der anderen Person vorgeht. Anstatt den vermeintlichen Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte zu analysieren, versuche, die Gefühle, Bedürfnisse und Werte zu erkennen, die in ihr oder ihm lebendig sind. Du brauchst dich nicht zu beeilen, diese zu benennen, hör einfach nur zu. Dann kann etwas Magisches und Schönes passieren: Während du auf diese Weise „Raum bereitstellst“, hilft es der anderen Person, ihre Gefühle zu verarbeiten, und das führt in der Regel zu ihrer Bereitschaft, dir zuzuhören und dich auf die gleiche Weise zu unterstützen. Et voilà! Wenn du geduldig und reif genug dazu bist, alle Gefühle des anderen und auch deine eigenen durchzulassen, kann in den Zwischenräumen mehr Liebe aufblühen. Die Liebe erblüht nicht trotz der „negativen“ Gefühle, sondern gerade weil man sie akzeptiert und ihre Wurzeln erforscht. „Negative“ Emotionen zwischen Menschen sind immer eine Chance für mehr Verbundenheit oder Intimität. In diesem Sinne stellen sie eine zutiefst positive Chance dar.


Wir haben nun erörtert, dass es so etwas wie negative Energien nicht gibt: Nicht in dir, nicht in anderen. Auch wenn jemand seine Emotionen nicht mag und sie auf dir abladen will (zusammen mit der Story, die dies für ihn rechtfertigt), so ist das ein Geschenk. Eine Gabe, wenn du emotional stark genug bist, diese Energien anzunehmen und den ganzen Weg durch dich hindurch passieren zu lassen. Und falls du irgendeinen Aspekt der Story für wahr hältst (was meistens schmerzhaft ist), so ist auch das ein Geschenk. Wie das? Weil du auf deinem spirituellen Weg jede Lüge und Falschheit an die du noch glaubst, erkennen musst, bevor du sie auflösen kannst. Und denk daran, die Geschichten über dich können dich nur dann anfechten, wenn du daran glaubst. In diesem Fall verletzt du dich selbst. Willst du nicht deinen selbst-begrenzenden Glaubenssätzen begegnen, damit du sie angehen und lösen kannst?

Demnach ist es für einen sādhaka (spirituell Praktizierender) nicht nötig, sogenannten angeblich negativen Menschen oder Energien aus dem Weg zu gehen. Alle menschlichen Interaktionen sind energiegeladen und potenzielle Gaben, die Ermächtigung und Lebendigkeit bieten. Allerdings ist es auch unnötig, solche Interaktionen zu suchen oder herbeizuführen. Warum? Weil der ‚Emotionalkörper’, (Energiekörper oder feinstofflicher Körper), ebenso wie der physische Körper, eine Obergrenze der Belastungsfähigkeit besitzt. Wenn du es übertreibst, wirst du irgendwann keine weiteren emotionalen Energien mehr verdauen können, und du wirst verletzt und erschöpft werden. (Aus diesem Grund ist es überaus wichtig, dass du die begrenzte ‚Bandweite’ deiner Grenzen anerkennst!) Im tantrischen Yoga gibt es Praktiken zur Stärkung des Energie-Körpers (diese werden in unserem 7-Facetten-Lehrplan auf Tantrika Online gelehrt). Aber auch hier ist es super-wichtig, demütig zu sein und die eigenen Grenzen zu kennen. Denn es kann deine mental-emotional-physische Gesundheit beeinträchtigen, wenn du diese zu oft überschreitest.


Vervollständigen wir unsere Untersuchung dieses Themas durch die Beantwortung einiger allgemeiner Fragen, die damit verbunden sind. Erstens: Kann ein Ort negative Energien haben? Ich würde sagen nein, mit einigen wenigen Ausnahmen. Ich gebe zu, dass es hier ein kleines Geheimnis zu geben scheint. Manche Menschen scheinen zu spüren, wenn sich an einem bestimmten Ort etwas Schreckliches ereignet hat, selbst wenn alle physischen Anzeichen des Ereignisses beseitigt wurden. Soweit ich weiß, gibt es keine seriöse Studie über dieses Phänomen, aber ich habe den Eindruck, dass sich die Schwingung (in Ermangelung eines besseren Wortes) eines schrecklichen Ereignisses in den meisten Fällen recht schnell verflüchtigt. Wenn man den Eindruck hat, dass ein bestimmter Ort eine „negative Energie“ hat, liegt das normalerweise daran, dass man sich seltsam gestört fühlt, wenn man diesen Ort betritt. Das liegt aber fast immer an den psychologischen Assoziationen, die mit dem Ort verbunden sind. Oder du bist gerade dem Einfluss eines depressiven Elternteils entkommen, und ein Ort triggert deine samskāras entsprechend, sodass du dich leer und ausgelaugt fühlst. Daher vermeide solche Orte, solange dein Emotional-Körper nicht stark genug ist, diese Erfahrungen zu verdauen – genauso wie es eine gute Idee ist, die Gesellschaft von Menschen zu meiden, die dich ständig deprimieren oder beunruhigen, bis du in deiner Essenz-Natur stabilisiert bist.

Zweitens: Was ist mit bösartigen oder übelwollenden Geist-Wesen? Sind sie real? Die Tantrik Tradition besagt, dass es unzählige nicht-körperliche Wesen überall gibt. In der Regel muss man sich nicht um sie kümmern, denn ebenso wie bei menschlichen Wesen wird es hilfreiche und streitbare Geister geben, die große Mehrheit aber schert sich überhaupt nicht um dich. Abgesehen davon lehrt die Tantrik-Tradition ein Ritual, das den Raum von nicht-körperlichen Wesen befreien soll, und für diejenigen, die die Anwesenheit solcher Wesen erleben (oder glauben, dass sie es tun, was phänomenologisch auf dasselbe hinausläuft), könnte diese Praxis nützlich sein. (Du findest dazu ein Video in meiner Facebook-Gruppe „Tantrik Yoga Now“.)

Drittens: Gibt es wirklich so etwas wie das Böse? Kann ein menschliches Wesen wirklich böse sein? Das hängt von deiner Definition des Wortes ab. Wenn du damit meinst: „Menschen, die so geschädigt sind, dass sie quasi nichts Gutes bewirken können, und deren Handlungen überwiegend schädlich sind,“ dann ja. Aber ich glaube nicht, dass wir durch die Verwendung dieses Wortes etwas gewinnen. Wenn wir andere dämonisieren, fühlen wir uns versucht, sie zu vernichten, und auf diese Weise werden wir ihnen immer ähnlicher. Mit anderen Worten, wir werden denen ähnlicher, die wir hassen. Deshalb ist es wichtig, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie Menschen funktionieren, denn Verständnis mindert den Hass und erhöht das Mitgefühl. Wie schrecklich jemand auch sein mag oder wie schrecklich ein Unternehmen oder eine Institution auch sein mag, wir brauchen in dieser Welt weniger Hass und mehr Liebe. Daher obliegt es jedem von uns, zu überlegen, ob wir durch unsere Gedanken, Worte und Taten mehr zur Gesamtmenge der Liebe oder des Hasses beitragen. Die Yogatradition empfiehlt, die Liebe für diejenigen zu kultivieren, die Gutes tun, und den Hass für diejenigen zu verringern, die Schaden anrichten, als eine Praxis, die für dich und die Welt von Nutzen ist.

Um ein Verständnis für die menschliche Natur zu entwickeln, das den Hass mildert, ist es hilfreich, sich an folgende Maxime zu erinnern: Jede:r versucht den eigenen Bedürfnissen auf die ihm bestmögliche Weise gerecht zu werden. Wenn jemand nur manipulative und/oder gewalttätige Strategien zur Verfügung hat, so ist das tragisch und bedauernswert. Solche Leute verdienen Mitgefühl, nicht Verurteilung. Natürlich ist Mitgefühl keineswegs gleichbedeutend mit Nachgiebigkeit oder Billigung.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der freudige Höhepunkt des spirituellen Lebens auf dem Tantrik-Pfad der Punkt ist, an dem der Energiekörper (mental-emotionaler Körper) so stark ist, dass es nichts mehr zu fürchten gibt und keine Situation, Person oder Ort, die vermieden werden muss. Du bist endlich frei von allen unnötigen Hemmungen und schreckst nicht mehr vor jedem Aspekt des Lebens zurück. Es ist zutiefst befreiend, diesen Punkt zu erreichen! In der Tat ist es die Befreiung selbst.

Möge jede/r der diesen Beitrag liest, einen kraftvollen Energiekörper hervorbringen, und für immer frei werden von der Sklaverei der Angst!

Tathāstu! Iti śivam.!


Was sind „nahe Feinde der Wahrheit“? In Anlehnung an den Buddhismus verwende ich diesen Ausdruck, um leicht verzerrte Versionen spiritueller Lehren zu bezeichnen. Auf Aussagen, die wesentlichen und subtilen Wahrheiten ziemlich nahe kommen, aber dennoch knapp daneben liegen, was auf lange Sicht gesehen zu großen Unterschieden führt. Wenn wir über tiefgreifende und grundlegende Wahrheiten sprechen, so machen Äußerungen, die „ein bisschen falsch“ sind, kurzfristig betrachtet keinen großen Unterschied, wohl aber auf lange Sicht. So wie eine kleine Kursabweichung deines Bootes auf kurzen Strecken zunächst unerheblich ist, dich aber nach einigen tausend Meilen auf einen anderen Kontinent bringt.

Manche Menschen lehnen das Wort „falsch“ im vorigen Absatz ab. Diese Leute sind der Meinung, dass das einzig notwendige Kriterium für die Wahrheit darin besteht, dass es sich für einen selbst wahr anfühlt. Diese Sichtweise ist in Bezug auf Spiritualität ebenso gefährlich wie in der Politik. Denn dahinter steht zumeist: Ich will, dass es wahr ist, also glaube ich es –  egal wie die Fakten sind. Wenn du nicht erkennst, wie brisant dieses Thema ist, oder wenn du zweifelst, ob es überhaupt Fakten oder universelle Wahrheiten gibt, lies bitte die zweite Hälfte des ersten Blogbeitrags (nahe Feinde #1und den unten angefügten Nachtrag.

Für jeden spirituell Suchenden ist es enorm wichtig zu erkennen, warum es sich um nahe Feinde handelt, und nicht um die Wahrheit selbst, wenn er/sie über den Status eines Anfängers hinauswachsen will, um tief in die (überaus erfüllende) spirituelle Arbeit einzutauchen. Dabei ist zu beachten, dass ein Beinahe-Feind, wenn er nahe genug ist, ein vorübergehender Verbündeter für einen Anfänger sein kann. Aber auf einem höheren/tieferen Level spiritueller Praxis gibt es kein „nahe genug“ mehr. Wenn du deine bequemen und wohlgefälligen Selbstbeteuerungen nicht auf dem Altar der Wahrheit opferst, wird dein Fortschritt stagnieren. Nach dieser kurzen Einführung, lass uns auf den nächsten nahen Feind der Wahrheit schauen.


Übersetzung aus der Reihe: Nahe Feinde der Wahrheit von: © Christopher Hareesh Wallis, September 8, 2017 · Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 08.2019; Überarbeitung 02.2022 von: Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA, Anusara ausgebildet · Lektorat: D.

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