Was ist kuṇḍalinī?
»Durch das Herabsteigen der oberen Kraft, das Zusammenziehen der unteren Kraft und das Erwachen der zentralen Kraft entsteht die höchste Freude.«
Amaraugha-śāsana, Goraksha (7. Jh. nuZ) zugeschrieben
Die Frage, was denn eigentlich kuṇḍalinī ist, ist im Grunde genommen unmöglich zu beantworten. Nachdem das Wort im allgemeinen westlichen Sprachgebrauch angekommen ist, nutzt jede*r es heutzutage so, wie es am besten in den eigenen Kontext passt. Wir verstehen unter diesem Namen sowohl eine eigenständige Gottheit, die als Synonym für den Ursprung der Sprache und der ganzen Welt gilt, als auch Energie in unterschiedlichsten Formen und Wahrnehmungsszenarien, und nicht zuletzt eine Art spirituelle Kraft, die in Zusammenhang mit Erwachen steht.
kuṇḍalinī hat also mit dem Energiekörper zu tun, ähnlich wie cakras (Energiezentren), nāḍīs (Energiebahnen), vāyus (Winde) und weitere. (Übrigens liegt die traditionell richtige Betonung des Wortes auf dem hinteren »i«, nicht in der Mitte.) Diese Vorstellungen und Modelle des Energiekörpers haben keine exakte Entsprechung in uns bekannten medizinisch-anatomischen Strukturen. Weder Energiebahnen, noch Energie-Zentren sind so etwas wie sezierbare Organe. Es geht auch nicht um bestimmte mystische Wahrnehmungsarten, die nur darauf warten, dass jemand sie erkennt und dadurch Befreiung und Erwachen erlangt – so sehr wir uns das vielleicht auch wünschen. Energie ist in jeder Erscheinungsform eine fließende Realität. Energie-Übungen sind vielmehr Elemente der Praxis; sie sind also Prozesse, keine Dinge. Die richtige Frage lautet daher: Was macht man mit ihnen? Ohne die Auseinandersetzung mit ihnen, was wir im Yoga sādhanā nennen, ist es einfach sinnlos zu fragen, was sie sind! Selbst wenn man kuṇḍalinī als Energie definiert, wie es die meisten Menschen heute tun, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Energie niemals als Ding an sich existiert, sondern nur als Eigenschaft eines aktiven Systems, das etwas vollbringt, das sich beobachten lässt.
Woher kommt das Wort kuṇḍalinī?
Kehren wir also an den Anfang zurück und erforschen dieses scheinbar undurchdringliche Thema gemeinsam. kuṇḍalinī stammt aus dem Sanskrit und bedeutet soviel wie: die Gewundene. Das Wort tauchte erstmals vor etwa 1300 Jahren in tantrischen Texten auf und verschwand danach wieder für mehrere Jahrhunderte. Wollen wir kuṇḍalinī verstehen, sollten wir uns mit der tantrischen Tradition befassen, die das Wort und die dazugehörigen Lehren hervorgebracht hat.
Das Problem dabei ist, dass es bisher keine größere wissenschaftliche Studie zu diesem Thema gegeben hat. Denn Sanskrit-Gelehrte, die dazu qualifiziert wären, haben erkannt, dass das Thema riesig und in vielerlei Hinsicht unüberschaubar ist. Die Bedeutung des Wortes kuṇḍalinī hat sich im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kontexten verändert. Alle Verwendungsweisen dieses Schlüsselbegriffs in den verschiedenen Phasen der tantrischen Traditionen zu analysieren, wäre äußerst umfangreich und extrem schwierig. Es gab sehr lange nur ein Buch über kuṇḍalinī, das von der Sanskrit-Gelehrten Lilian Silburn 1983 in Französisch geschrieben wurde. Obwohl sie einige sehr wichtige Primärquellen zitiert, hat sie diese Quellen einfach nicht so gut verstanden, wie man es sich vielleicht gewünscht hätte. Ihr Buch ist faszinierend, aber auch verwirrend. Hinzu kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Quellen zu diesem Thema bisher noch nicht übersetzt wurden. Sie existieren teilweise lediglich in Form von handschriftlichen Manuskripten in unterschiedlichen Schriftsprachen. In Ermangelung eines maßgeblichen Werks zu diesem Thema gibt es daher eine Vielzahl an Spekulationen.
Wieso hat »Kundalini-Yoga« nichts mit der traditionellen Auffassung von kuṇḍalinī zu tun?
Bevor ich mich mit einigen der Primärquellen befasse, möchte ich eine recht umstrittene Wahrheit aussprechen. Was derzeit in zahllosen Yogastudios unter dem Namen »Kundalini-Yoga« gelehrt wird, hat überhaupt nichts mit einer authentischen oder traditionellen Praxis zu tun. Vielmehr wurde sie von Harbhajan Singh Puri entwickelt, besser bekannt als der 3HO-Kultführer Yogi Bhajan. (Hierzu empfehle ich den brillanten Artikel von Philip Deslippe: From Maharaj to Mahan Tantric: The Construction of Yogi Bhajan’s Kundalini Yoga). Yogi Bhajan hat seine Praxis-Übungen nicht innerhalb einer Traditionslinie erhalten, sondern selbst frei erfunden. Warum ist das wichtig? Nun, wer diese Praxis liebt und sie nützlich findet, für den spielt es nicht unbedingt eine Rolle. Ich halte es jedoch für wichtig zu wissen, dass die Praxis des Kundalini-Yoga von Yogi Bhajan keinerlei Beziehung zu dem hat, was in Verbindung mit dem Wort kuṇḍalinī in den ursprünglichen Sanskrit-Quellen gelehrt wird.
kuṇḍalinī in den Tantrik-Texten
Was also ist kuṇḍalinī in den ursprünglichen tantrischen Quellen und wie bezieht es sich auf yogische Praktiken? Es scheint, als erhebe jede*r der ein tatsächliches oder vermeintliches kuṇḍalinī-Erwachen hatte, den Anspruch auf die Deutungshoheit dieses Begriffs. Das Thema dieses spontanen psychophysischen Ereignisses verdient und erfordert eine eigene, angemessene wissenschaftliche Untersuchung. Übrigens wurde dieses lebensverändernde Erlebnis in der vormodernen Tradition nicht kuṇḍalinī-Erwachen genannt, sondern śaktipāta (das Empfangen göttlicher Gnade).
Mir geht es hier ausschließlich um eine historische Untersuchung. Ich interessiere mich für das, was wir durch evidenzbasierte Forschung tatsächlich als wahr nachweisen können. Leider sind fast alle unsere Belege für die vormoderne Zeit textlicher Natur, und diese Sanskrit-Texte sind durchweg präskriptiv, nicht deskriptiv. Das bedeutet, dass sie nicht die Erfahrungen der Menschen im wirklichen Leben schildern (von wenigen Ausnahmen abgesehen), sondern einfach beschreiben, wie man bestimmte Praktiken ausführt. Wir wissen nicht, wie gut diese Praktiken funktioniert haben oder wie viele Menschen dadurch erwacht sind. Aber wir wissen, dass die Tantrik-Tradition so einflussreich und weit verbreitet war, dass unwirksame Lehren und Praktiken nicht lange überlebten. Außerdem war es wichtig, den Ruf der Tradition zu wahren und so die königliche Schirmherrschaft und somit Förderung aufrechtzuerhalten – zumindest, bis die muslimischen Invasionen ab dem 12. Jhd. all dem ein Ende bereiteten.
Werfen wir nun einen Blick auf einige unserer frühesten Primärquellen. Es gibt einen sehr frühen Kaula-Trika-Text namens Siddha-yogeśvarī-mata (ca. 700 nuZ), was so viel bedeutet wie »Die Lehre der Siddhas und Yoginīs«. Hier sehen wir die allererste dokumentierte Verwendung des Wortes kuṇḍalinī. Dicht gefolgt von einer weiteren Verwendung in einem ganz anderen Text aus der gleichen Zeit, dem Kālottara (»Transzendenz der Zeit«). Beide Texte sagen nur sehr wenig über kuṇḍalinī aus, aber es ist bezeichnend, dass der Begriff etwa zur gleichen Zeit in den beiden Hauptströmungen der klassischen Tradition auftaucht. Diese Schulen waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich. Die non-dualistische, grenzüberschreitende Linie, die manchmal als die linke Strömung oder Kaula-Tradition bezeichnet wird, verehrt die Göttin(nen). Und die dualistische Linie, die auch als die rechte Strömung oder Saiddhāntika-Tradition bezeichnet wird, ist dualistisch, Veda-konform und verehrt Shiva als höchste Gottheit. Mit anderen Worten, kuṇḍalinī war im Ursprung eine ausschließlich tantrische Lehre. Sie ist in keiner vor-tantrischen Quelle zu finden, nicht in den Veden, nicht in den Upanishaden und nicht in den sechs Darshanas (klassische Sichtweisen). Später allerdings taucht der Begriff auch im Tantrik-Buddhismus und im Tantrik-Vaishnavismus auf.
In einem weiteren Text, der Siddha-yogeśvarī-mata wird Kuṇḍalinī als jagad-yoni – als Schoß des Universums, oder wörtlich, als die Quelle der Welt, verkündet. Der Begriff hat also von Anfang an eine viel größere Tragweite, als den meisten Menschen bekannt ist: Er ist der Name für die generative Matrix des Universums, die Göttin selbst. Hier heißt es, dass kuṇḍalinī der Ursprung der drei primären Shaktis ist. Das sind: die drei Göttinnen der Trika; und/oder die drei Kräfte des Wollens, des Wissens und des Handelns; und/oder die Quelle aller Sanskrit-Buchstaben, somit die Grundlage von Sprache im Allgemeinen. Wir haben also von Anfang an die spezifische Vorstellung von kuṇḍalinī als einer sprachlichen Kraft in Form von Mantras. Tantra wird auch der »Weg der Mantras« genannt. Da alles was ist, schwingt und pulsiert, wirken Mantras auf Klangebene.
In einer Rezension des Kālottara, finden wir eine einzige Erwähnung unseres Schlüsselbegriffs: dieses Mal bezieht sich kuṇḍalinī auf eine bestimmte Region des Körpers. Allerdings ist hier nicht die Rede davon, dass sie ruhend sei; auch wird sie weder an der Basis des Rumpfes verortet, noch an der Basis der Wirbelsäule.
»Die ursprüngliche Gewundene ist mit der ‚Sonne‘ (piṅgalā-Kanal), dem ‚Mond‘ (iḍā-Kanal) und dem ‚Feuer‘ (dem suṣumnā- oder zentralen Kanal) verschmolzen. Sie soll in der Region des Herzens [dem Schnittpunkt dieser drei Kanäle] visualisiert und erfahren werden, wobei sie dort mit der Erscheinung eines gekräuselten Sprosses [der Flamme] verbleibt.«
In den frühen Quellen wird kuṇḍalinī häufig als gewunden, gekrümmt oder eingerollt beschrieben. Wenn sie sich im zentralen Kanal aufrichtet, hat der Prozess des Erwachens ernsthaft begonnen – oder steht kurz vor der Vollendung. Schauen wir uns einen weiteren frühen Vers an. Obwohl seine Quelle geheimnisvoll ist, wissen wir, dass er mehr als tausend Jahre alt ist, weil der Weise Kshemarāja (ca. 1.000 nuZ) ihn zitiert:
»Jemand, der die [Art von] Versenkung in die göttliche Kraft erfährt, die durch das Herabsteigen der oberen Energie und das [wohltuende] Zusammenziehen der unteren Kraft entsteht, ist ein wahrhaft Weiser.«
kuṇḍalinī in Tantra und Hatha-Yoga
Im klassischen Tantra finden wir eine Lehre von zwei kuṇḍalinīs: eine obere kuṇḍalinī im Scheitel des Kopfes, die nach unten in Richtung des Herzens gebracht wird, und eine untere kuṇḍalinī in der Basis des Körpers, die oft mit sexueller Energie assoziiert wird. Sie wird komprimiert und zum Aufsteigen angeregt. Beide sollen sich im zentralen Kanal treffen und zu einer Kraft verschmelzen, was die Stabilisierung des erwachten Bewusstseins bewirkt. Der eben zitierte Vers legt nahe, dass man bei Erfolg etwas erfährt, was rudra-śakti-samāveśa genannt wird und wörtlich göttliche Kraft heißt. Es bedeutet das erfahrungsmäßige Eintauchen in die intensivste Kraft des erwachten Bewusstseins. Durch die Verschmelzung der beiden kuṇḍalinīs wird man vollkommen in verstärkte göttliche Energie gebadet und eingetaucht. Man wird ein wahrhaft weiser Mensch, wie es in dem Vers heißt – aber das ist keine intellektuelle Weisheit, sondern Einsicht in die wahre Natur der Wirklichkeit.
Im Haṭha-Yoga ging diese Lehre jedoch verloren, und so entstand das populäre aktuelle Verständnis einer einzigen, schlafenden Kraft an der Basis des Körpers (oder Basis der Wirbelsäule). Dort ist es das Ziel der Reise, diese Kraft nach oben zu treiben, bis sie den Scheitel des Kopfes erreicht. Dies unterscheidet sich deutlich von allem, was wir in den klassischen Tantrik-Quellen finden. Darüber hinaus ist die Haṭha-Yoga-Sichtweise aus der non-dualen Tantrik-Perspektive unausgewogen und in gewissem Sinne sogar gefährlich. Denn sie fördert eine unablässige Aufwärtsbewegung, die von Natur aus transzendental ist und daher der Abwärtsbewegung der Verkörperung entgegensteht. Obwohl Haṭha-Yoga körperliche Praktiken wie Yoga-Asanas betont, finden wir hier häufig die Überzeugung, dass der Körper von Natur aus unrein sei – und daher durch extreme Reinigungs-Praktiken gereinigt werden soll. Dieser Drang zur Transzendenz wird im klassischen Tantrik-Yoga durch die Bewegung nach unten in den Körper, also die Verkörperung, ausgeglichen. Das bedeutet nicht, den transzendentalen Impuls aufzugeben. Vielmehr lernt man, ihn mit dem Impuls, »Ja« zur verkörperten Existenz zu sagen, zu vereinigen und zu integrieren. Das ist der entscheidende Schlüssel.
All das wird in Kapitel 18 meines Buches The Recognition Sutras (Pratyabhijñā-hṛdayam) ausführlich besprochen. Der Autor Kshemarāja stellt hier zehn Schlüssel-Übungen vor, wie man Zugang zum Zentrum, dem Kern des eigenen Wesens, erhält und ausdehnt und dadurch die natürliche und angeborene Glückseligkeit des Gewahrseins (cidānanda) erfährt. In dieser Lehre soll die obere kuṇḍalinī durch uccāra-Praxis stimuliert und nach unten gebracht werden, sobald sie aktiviert ist. Die untere kuṇḍalinī wird durch spezifische sexuelle, oder auch durch nicht-sexuelle Praktiken stimuliert – Praktiken, die mit dem kanda arbeiten (im Taoismus das untere dān tián genannt). Kshemarāja verwendet auch eine geheimnisvolle Formulierung, wenn er davon spricht, die untere kuṇḍalinī zu nähren und sie zu begradigen. Hier stoßen wir auf die sehr wichtige Tatsache, dass das Wort kuṇḍalinī wörtlich »die Gewundene« bedeutet – es ist eine Art zusammengerollter Kraft.
Worauf bezieht sich dieses Aufrollen und Aufrichten denn nun? Es scheint, dass die früheste Form des kuṇḍalinī-Yoga sich auf die Atempause konzentrierte – vor allem auf die Pause am Ende des Einatmens. Die meisten Menschen nehmen sich nicht die Zeit, zwischen den Atemzügen innezuhalten. Mit entsprechender Übung und Praxis wickelt sich die Energie von prāṇa-śakti in Erwartung des nächsten Atemzyklus regelrecht auf. Der Atem strömt ein und hinunter zum Bauch; und dann, wenn man prāṇa-śakti dort hält, wickelt sie sich am oder um den Nabel auf. Sie kann sich auch auf der Höhe des Herzens einrollen. Wenn man noch ein wenig länger den Atem innehält, als es natürlicherweise der Fall wäre, verstärkt sich dieses Einrollen in Erwartung des Ausatmens. An diesem Punkt kann man die Energie des Atems mit einem einsilbigen Mantra, bīja genannt, verschmelzen. Das anschließende Ausatmen ist gleichermaßen die Aufrichtung der Spirale. Man will bewirken, dass die Energie, prāṇa, auf dem Ausatmen nach oben reitet. Du lädst die Energie ein, in den vollkommen geraden zentralen Kanal einzutreten.
Wieso assoziieren wir kuṇḍalinī mit Schlange?
Ursprünglich, im klassischen Tantrik-Yoga, wurde kuṇḍalinī weder als ruhend beschrieben, noch hatte es irgendetwas mit einer Schlange zu tun. Woher also kommt diese Assoziation? In einigen frühen Quellen finden wir das Gleichnis: »Wenn kuṇḍalinī eine visuelle Form hätte, würde sie wie eine schlafende Schlange aussehen«. Wie schläft die Schlange? Sie schläft aufgerollt, in einer Spirale. Als aufgerollte Energie sieht kuṇḍalinī also wie eine schlafende Schlange aus – aber sie war ursprünglich weder eine spezifisch schlangenartige Energie, noch war sie schlafend. Solche Konzepte (Missverständnisse?) kamen erst später auf. Im klassischen Tantra finden wir keine spezifische Assoziation von kuṇḍalinī mit Schlangen, außer in Form dieses Gleichnisses.
Welche Rolle spielen die Saat-Mantras, bījas?
Es gibt auch spezifische kuṇḍalinī bīja-Mantras. Wie lauteten diese ursprünglich? Das erfordert weitere Nachforschungen, aber ich bin überzeugt, dass eines von ihnen mit Sicherheit »Hrīṃ« war, ein anderes wahrscheinlich »Hrauṃ«, und ein weiteres fast sicher »Hūṃ«. Alle drei Mantras beginnen mit »H«, und dieser Laut hat in geschriebenem Sanskrit eine Art Windung. Die Aussage, dass kuṇḍalinī wie eine schlafende Schlange ist, könnte also eine verschlüsselte Anspielung auf diese geheimen Mantras gewesen sein. Das heißt, dass jemand allein durch das Lesen des Textes nicht in der Lage ist, das Mantra selbst zu ermitteln. Dazu brauchte man einen lebenden Lehrer.
Das kuṇḍalinī bīja-Mantra wird, wenn es richtig und mit ausreichender Intensität zum Klingen gebracht wird, zu einer somatischen Klangnadel (nāda-suchi). Diese hat die Fähigkeit, den sogenannten psychischen Knoten in der Mitte des Kopfes oder direkt unterhalb der Mitte des Kopfes zu durchstechen (rudra granthi oder māyā granthi). Der Theorie nach verhindern diese Knoten, dass man die wahre Einheit der Dinge erfährt. Das Mantra wird dort intensiv getönt, wodurch die Klangnadel den Knoten durchsticht … Stück für Stück, immer wieder, bis eine große Öffnung entsteht. Dann kann die obere kuṇḍalinī-Energie (die ewig im Scheitel wohnt) nach unten fließen und mit der unteren kuṇḍalinī verschmelzen. Daraus entsteht eine kuṇḍalinī, die sich im zentralen Kanal bewegt. Als Folge davon ist man endlich voll lebendig. Du erlangst eine Lebendigkeit, die so pulsierend, so lebendig, so vollständig ist, dass dir dein vorheriges Leben wie ein Schlafwandeln vorkommt.
Das Mysterium der kuṇḍalinī
Bisher haben wir uns mehrere Quellen angesehen, deren Versionen des ursprünglichen kuṇḍalinī-Yoga sich maßgeblich überschneiden, auch wenn sie sich in bestimmten Details unterscheiden. Wir werden uns einen weiteren Text ansehen, das Vijñāna-bhairava-tantra (VBT), eine weitere frühe Quelle um 800 oder 850 nuZ, in der wir das Mysterium, das wir besprochen haben, klar erkennen können.
Vergleicht man Vers 24 mit Vers 154 des VBT, so wird deutlich, dass sie sich ergänzen und gewissermaßen einen Kreis um die anderen Verse schließen. Die Beziehung zwischen beiden Versen ist absolut entscheidend für das Verständnis der Offenbarung dieser Schrift. Es heißt, dass die Lebenskraft beim Einatmen eintritt und sich durch die Kraft des Willens wie eine Feder zu einer Spirale formt; und die große Göttin [Kuṇḍalinī] sich durch dieselbe Kraft aufrichtet und verlängert. Es wird gesagt, dass sie sowohl transzendent als auch immanent ist. Diese Lehre über kuṇḍalinī war damals noch so geheim, dass oft nicht einmal das Wort selbst verwendet wurde; hier sehen wir stattdessen das Wort kuṭila, ein übliches Synonym in der Literatur.
Der große Meister Abhinavagupta lehrte beispielsweise, dass es im Grunde genommen drei kuṇḍalinīs gibt: parā-kuṇḍalinī (am Scheitel), kula-kuṇḍalinī (im Herzen) und prāṇa-kuṇḍalinī (an der Basis). Diese Vorstellung findet sich auch im Zitat am Anfang dieses Artikels. Abhinavaguptas Lehre verwebt, wie üblich, alle zu seiner Zeit verfügbaren Quellen miteinander und gibt ihnen einen zusammenhängenden Sinn.
Wir haben noch eine Menge Forschungsarbeit vor uns, um all diese alten Fäden zu einem wirklich zusammenhängenden Bild des ursprünglichen kuṇḍalinī-Yoga zusammenzufügen. Aber viele der Teile des Puzzles fehlen noch und warten darauf, zusammengefügt zu werden.
OM!
Quelle: Dr. Christopher Hareesh Wallis
ist akademisch ausgebildeter Gelehrter und Praktiker mit dreißig Jahren Erfahrung. Er erhielt eine traditionelle Ausbildung in āshrams im Bundesstaat New York und in Indien, wo er in Meditation, Mantra-Wissenschaft, kīrtan, Karma-Yoga, Pädagogik und vielem mehr geschult wurde. Hareesh leitet Retreats und Yoga-Reisen und ist Gründer und Leiter des Lernportals »Tantra Illuminated« und der »Tantrik Yoga NOW« Facebook-Gruppe. Er ist Autor von Tantra Illuminated und The Recognition Sutras. Die deutsche Übersetzung »Licht auf Tantra« erschien im Herbst 2023 bei O.W. Barth.
https://tantrailluminated.org/
https://hareesh.org/
Über die Übersetzer:
Brigitte Heinz
Yogalehrerin, Grafikerin, Autorin, Übersetzerin
Zusammen mit Nicole Konrad hat sie das Buch »Yoga für jeden Körper« sowie Ausbildungsunterlagen für Yogalehrende verfasst. Außerdem bieten beide eine kostenlose Online-Vortragsreihe über Yoga-Wissen an.
https://www.brigitte-heinz.de/
Hajo Normann
Tantrika, bhakta, Autor, Übersetzer (und IT Berater).
Grafikerin Web & Print, Yogalehrerin YA, Übersetzerin