saṃsāra, das Rad des Leidens
Bei unseren gemeinsamen Vorträgen (von Nicole Konrad und mir) zur Yogaphilosophie kamen folgende spannenden Frage auf, die ich versuche, zu beantworten:
Warum ist es denn erstrebenswert, aus dem »ewigen« Kreislauf des Lebens auszusteigen?
Super Frage! … die mehrere Antwortmöglichkeiten nach sich zieht – keine davon kann vollständig sein, da Sprache immer dual ist und ein Begriff immer andere Inhalte und Möglichkeiten ausschließt.
1. Wir übersetzen saṃsāra nicht als Rad des Lebens, sondern besser als Rad des Leidens. Befeuert wird dieses Rad durch unsere saṃskāras, (= vikalpas) (s.u.), also unsere Glaubenssätze und unser Handeln was aufgrund von irgendeiner Agenda erfolgt (karma). Dahinter steht die Idee oder vielmehr das Wissen darum, dass ein Leben in dieser dualen Welt immer auch das Potenzial für Schmerz und Leid birgt. Wir wollen also dem Kreislauf von Leid entkommen.
2. Die beiden maßgeblichen Ziele des NST (non-duales Shiva-Shakti-Tantra) sind Freiheit (mokṣa) und Erwachen (bodha), diese führen zu einer Befreiung aus dem Rad des Leides.
3. Wer diese tantrischen Ziele wirklich erreicht und im Leben verkörpert – und nicht einfach nur als logischen Satz versteht – der ist tatsächlich frei von Glaubenssätzen, handelt aus tiefer Intuition (kriya) und treibt damit das Rad des Leids nicht weiter an, dieser Mensch ist zwar noch in der Welt, aber nicht mehr an das Rad des Leidens gebunden (frei von karma).
4. Dieses Ziel ist für die meisten von uns nicht vollständig erreichbar. Je nachdem ob jemand an so etwas wie die Wiedergeburt glaubt oder auch nicht, so bietet die Lehre entweder die Vorstellung, dass ein*e Suchende*r im Augenblick des Todes die vollständige Freiheit erlangt, oder auch, dass das der Verlauf mehrerer weiterer Geburten unweigerlich zum Ziel führen wird.
Wenn aus der Weltsicht des Tantra im Grunde genommen alles Eins ist, alles Shiva (= gesegnet, göttlich), warum sollte man als einzelnes Individuum aussteigen wollen (oder können)?
1. Auf dem Pfad zur Befreiung ist eine möglich Station das sogenannte Einheitsbewusstsein. Viele reden davon, Wenige erlangen es. In diesem Zustand ist wirklich und wahrhaftig das Bewusstsein darüber gegeben, dass wir im tiefsten Kern unseres Seins keine getrennten Individuen sind, sondern verbunden sind, Eins sind. Alle die diesen Zustand nicht erreichen, und das sind vermutlich mehr als 99,9 Prozent der Menschen, die überhaupt auf einem spirituellen Pfad gehen, für die ist dieser Einwand theoretisch und nur ein Gedankenspiel und im Grunde genommen irrelevant.
2. Tatsächlich ist Bewusstsein ewig – ohne Anfang und ohne Ende. Das ist für unser duales Sein und Denken nicht nachvollziehbar. Natürlich wird dieses Bewusstsein sich immer wieder in unterschiedlichste Formen zusammenziehen um sich selbst zu erfahren. Und natürlich sind all diese Formen auf ihre Weise frei, ihre Art der Beschränkung und auch des Leids zu er-leben.
3. Hat jemand das Konzept von »Ich« komplett hinter sich gelassen, stellt sich weder die Frage nach saṃsāra noch nach Wiedergeburt, oder Leid – alles ist ein Bewusstsein dass sich in unzähligen Blickwinkeln selbst erforscht – ohne Wertung, ohne Einschränkung.
Auszug aus »Licht auf Tantra« von Christopher Wallis:
Im allgemeinen Sanskrit-Gebrauch ist ein saṃskāra wörtlich ein Eindruck bzw. Abdruck, wie ein Fußabdruck im Sand am Strand. Wenn es nun eine Reihe von tiefen Spuren im Sand gibt, wird das Wasser bei steigender Flut anders fließen, als bei einem vollkommen glatten Sandstrand. Genauso wird die Energie der Welt, wenn sie durch deinen Geist strömt, von den tiefen Eindrücken vergangener Erfahrungen beeinflusst. Sie sind dort gespeichert, und deshalb fließen sie für dich anders als für jede*n anderen.