Tropfen im Ozean oder Ozean im Tropfen?
Die Yoga-Philosophie stellt die ganz grundlegenden Fragen des Lebens. Wer bin ich, welchen Sinn, welche Auswirkungen hat mein Leben, wo geht es hin, was kommt danach?
Antworten oder Theorien dazu füllen zahllose Bücher und Schriften und beschäftigen die Menschheit und ihre herausragenden Denker*innen seit es Menschen gibt und vermutlich auch bis es uns nicht mehr geben wird. Es gibt keine einfachen und schon gar keine kurzen Antworten darauf, alle Ansätze von Antworten sind so vielfältig wie die Menschen selbst, nichts davon ist für alle Kulturen oder Individuen gleichermaßen gültig.
Dennoch haben wir diesen wunderbar analytischen Verstand und sind damit aufgerufen, diesen auch zu gebrauchen, abzuwägen und zu entscheiden, was wahr ist, und was nicht.
Gerade auch in der Yogawelt gibt es einige anschauliche Konzepte, die zuweilen jedoch recht widersprüchlich erscheinen. Beispielsweise die Analogien zum Ozean: Wir sind wie ein Tropfen im Ozean, ein Kräuseln auf seiner Oberfläche. Und am Ende verschmelzen wir wieder mit diesem großen Ganzen. Diese Idee lässt mich ziemlich klein und unbedeutend erscheinen.
Zugleich ist in diesem kleinen Tropfen das Potenzial des ganzen Ozeans vorhanden, und das kleine Kräuseln setzt sich auf einem imaginären, unendlichen und grenzenlosen Ozean bis in alle Ewigkeit fort. Jeder kleine Rippel, jede Welle die ich erzeuge, beeinflusst alle Wellen um mich herum, ergibt neue Überschneidungen und Muster. So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings den Ausschlag dafür geben kann, ob am anderen Ende der Welt ein Tsunami entsteht, so besagt das Bild vom Tropfen, der alles spiegelt und alles beinhaltet, dass alles was ich bin und tue, Auswirkung auf das große Ganze hat, und betont meine Wertigkeit.
Als Menschen sind wir in vieler Hinsicht begrenzte Wesen
Unsere Zeit ist endlich, unsere Kräfte und Möglichkeiten eingeschränkt und unser Wissen begrenzt. In der Tantrik-Philosophie heißt es, dass das Eine, ewige unbegrenzte Bewusstsein sich aus freiem Willen in uns einzelne Wesen und all das was uns umgibt kontrahiert, um sich selbst aus unendlich vielen Blickwinkeln zu betrachten. Gleichzeitig ist in jedem und jeder von uns das Potenzial des großen Ganzen angelegt und vorhanden. Wir sind gleichermaßen Gott/Göttin und Sandkorn zugleich. Beides sind wie entgegengesetzte Pole, und beides ist für unseren Verstand nicht wirklich zu erfassen.
All diese Beispiele stehen für die Dualität die unsere Realität ausmacht. In allen Fällen sind beide Pole gleichermaßen gültig, und alles was dazwischen liegt ebenso. Yoga im Sinne von Tantra bedeutet: sich all das bewusst machen was ist. Je nachdem wie unsere ganz individuellen Vikalpas (mentalen Konstrukte) beschaffen sind, können wir wählen, welche Sichtweise uns und unserer Entfaltung mehr dient, z.B. mehr Demut oder mehr Mut … Im Tantra geht es darum, durch Praxis und Üben die Fähigkeiten der Wahrnehmung und Unterscheidung zu schulen. Raum zu schaffen zwischen den Polen, zwischen den Gedankengängen und Emotionen. Um dann die Synthese zwischen all diesen Polen zu sehen, die Realität in all ihren Facetten. Das ist eine Erklärung für dieses mystische Wort: