Naher Feind #10: Hör auf dein Herz
Folge deinem Herzen, listen to your heart.
In der heutigen Alltags-Kultur werden der Verstand und das Herz in gewisser Weise als Gegensätze betrachtet. Der Verstand wird als Ort des Denkens und der Rationalität angesehen, das Herz als Ort der Emotionen, der Leidenschaft, des Verlangens und der Sehnsucht. Rationalität und Emotionen werden oft als unvereinbar angesehen, zumindest in einigen Fällen, und so muss man sich zwischen den Eingebungen des Kopfes und des Herzens entscheiden.
Das ist blanker Unsinn.
Natürlich kann es echte Widersprüche geben zwischen dem, was man tun will, und dem, was man tun soll (oder vergleichbare innere Spannungen), aber es nützt niemandem, dies zu einem Kampf zwischen Herz und Kopf zu stilisieren.
In der alten indischen Kultur und Philosophie gibt es nur ein gemeinsames Wort für „Geist“ (mind) und „Herz“ (heart). Das heißt, jedes Wort, das in der Sanskrit-Sprache „Verstand“ bedeutet, bedeutet zugleich auch „Herz“ und andersherum. Mit anderen Worten: Diese Kultur hat sich immer vorgestellt, dass der Ort des Gedankens und der Ort der Emotion derselbe sind. Sowohl Gedanken als auch Emotionen wurden als Schwingungen von citta bzw. des „Herz-Geistes“ (heart-mind) verstanden. Dieser befindet sich in der Mitte der Brust. Das bedeutet, dass vormoderne Menschen in Süd-Asien Gedanken nicht im Kopf verorten, wie wir es tun (oder uns vorstellen es zu tun), sondern sie erlebten, dass Gedanken und Emotionen im Zentrum des Brustkorbs stattfanden. Der Kopf war ein Ort des Bewusstseins, aber nicht des Denkens. Wir werden später auf diese wichtige Unterscheidung zurückkommen; es bedeutet, dass es vor allem eine kulturelle Konditionierung ist, die uns dazu veranlasst, Gedanken und Gefühle an bestimmten Orten zu erleben. In Wirklichkeit haben sie keinen festen Ort.
Wo auch immer wir sie verorten, die These, dass es tatsächlich einen einzigen Ort sowohl des Denkens als auch der Emotionen gibt (wir könnten ihn vielleicht im Deutschen als Psyche bezeichnen), hat erhebliche Auswirkungen. Denken und Fühlen sind völlig untrennbar miteinander verbunden. Wir können sie dennoch sinnvoll unterscheiden, indem wir sagen, dass Gedanken Schwingungen des Herz-Geistes mit einer größeren sprachlichen oder rationalen Komponente sind (vrttis), während Emotionen/Gefühls-Schwingungen (auch vrttis) stärker emotional geladen sind. Beide existieren auf einem Kontinuum. Daher manifestieren sich unbewusste Gedanken häufig als Emotionen und unbewusste Emotionen als Gedanken.
Es braucht ein paar Minuten (vielleicht auch Monate) um das Ausmaß dieser Erkenntnis komplett zu verinnerlichen. Es untergräbt gründlich die westliche Tendenz, Gedanken über Gefühle zu stellen, oder umgekehrt. Früheren Generationen wurde angeraten, der Vernunft mehr zu vertrauen als den unberechenbaren, eigensinnigen, irrationalen Gefühlen. Emotionen galten, vorsichtig ausgedrückt, als unzuverlässige Ratgeber für Handlungen.
Fakt oder Feeling?
Inzwischen hat sich das Blatt gewaltig gewendet. Gefühle sind unantastbar (sakrosankt). In Fernsehinterviews beispielsweise scheint sich niemand mehr für begründete Auffassungen zu interessieren. Stattdessen hören wir Fragen wie „Wie fühlen Sie sich damit?“ und Antworten wie „Ich meine, dass … “, woraufhin meist eine wenig durchdachte oder durch Fakten untermauerte Meinung folgt, die die Person nicht verteidigen muss, da es sich schließlich um ihr Gefühl handelt. Und Gefühle sind doch unbestreitbar, oder? Die emotionale Bindung ist in unserem heutigen öffentlichen Diskurs wichtiger als die Vernunft, und sie wird von den Medien ständig bestätigt, erhöht und dramatisiert.
Die Art und Weise, wie wir das Wort Gefühl verwenden, widerlegt unsere vermeintliche Trennung zwischen Kopf und Herz, da es die Bereiche des Denkens und der Emotionen sehr effektiv überbrückt. Wie wir etwas empfinden, ist in den meisten Fällen das, was wir darüber denken – basierend auf unserer Konditionierung und gestützt durch emotionale Ladung. Aber das Denken hat sich in allzu vielen Fällen auf das Niveau von wiedergekäuten verbalen Memen (Ideen/Konzepten) reduziert: Slogans, an die man sich emotional gebunden hat. Viele Menschen haben die Fähigkeit so gut wie verloren, solche Sprüche zu hinterfragen. Machen wir uns die Mühe, stellen wir fest, dass Menschen unter derselben Phrase oft etwas ganz unterschiedliches verstehen.
Was bedeutet es also, wenn jemand sagt: „Hör auf dein Herz“? Bedeutet es „mach, worauf du Lust hast“!; oder: „Komm mit deinen Gefühlen in Kontakt!“; oder: „Finde heraus, was du wirklich willst!“; oder: „Ignoriere die Meinungen und Wünsche anderer!“?
Sollten wir Entscheidungen auf der Grundlage einer ruhigen und rationalen Bewertung der uns zur Verfügung stehenden Fakten treffen, oder sollten wir all das über Bord werfen und auf der Grundlage der gerade vorherrschenden Emotion in unserer Psyche entscheiden?
Nur aufgrund mangelnder Reflexion stellen wir uns vor, dass wir zwei gegensätzliche Zentren haben, von denen eines dem anderen gegenüber vorgezogen wird. (Obwohl es sich durchaus so anfühlen kann, als ob es wahr wäre, wenn man der allgemein gebotenen Darstellung glaubt.) Auf dem spirituellen Weg sind die Implikationen davon in der Tat bedeutsam.
Ich kritisiere diesen aktuellen Trend hier sehr harsch, aber natürlich ist die entgegengesetzte Sichtweise genauso gefährlich. Wir alle kennen sicher jemanden, die/der zwar außerordentlich intelligent und rational ist, dessen Unfähigkeit mit den eigenen menschlichen Gefühlen in Kontakt zu treten aber dazu führt, dass er/sie Meinungen zustimmt oder Handlungen ausführt, die unsensibel oder sogar unmenschlich erscheinen.
Im Gegensatz dazu wird ein sādhaka, ein spirituell Praktizierender (oder einfach nur ein ganz normaler Mensch), der danach strebt, eine weise Entscheidung zu treffen, sorgfältig und nüchtern alle Aspekte seines Seins befragen: Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, wortlose Intuition und angeborenen Instinkt. Und sie/er wird all das mit seinem*r Lehrer*in und vertrauenswürdigen Freunden abwägen. Er/sie wird keine dieser Instanzen bevorzugen, denn das würde auf längere Sicht zu einer Schieflage und damit zum Zerfall der eigenen Entscheidungsgrundlagen führen.
Herz-Geist-Angelegenheiten, citta-vrittis
Schauen wir uns die Auswirkungen der Tatsache an, dass die Sprache Sanskrit dasselbe Wort für Geist (mind) und Herz gebraucht. Mit dem Wort citta ist beides gemeint und jedes steht synonym für das andere. Im Sanskrit gibt es auch keine eigenen Begriffe für Gedanken und Emotionen. Beides sind citta-vrittis, also Schwingungen/Vibrationen der Herz-Geist-Angelegenheiten, oder Bewegungen im Herz-Geist, oder Modifikationen im Herz-Geist. Bei näherer Betrachtung können wir feststellen, dass die Weisen aus alter Zeit absolut Recht hatten. Auch einer unserer führenden Wissenschaftler, Robert Sapolski, bekräftigt diese Sichtweise. Demnach ist es nur fehlender Reflektion geschuldet, dass unser Selbstbild zwei unterschiedliche Zentren aufzeigt, wobei das eine dem anderen übergeordnet wird. Die Folgen daraus sind wesentlich für den yogischen Pfad und werden hier nun weiter erforscht.
Nun mag der Einwand kommen: „Aber ich spüre es doch genau, dass meine Gedanken im Kopf stattfinden und meine Gefühle im Herzen!“ Ob du es glaubst oder nicht, es gibt eine ganze Menge an Beweisen, dass dies nur einer tiefen kulturellen Konditionierung entspricht. Im alten Indien nahmen die Menschen beides in der Herzregion wahr, Gedanken und Gefühle. Und im antiken Indonesien fühlten die Menschen beides in der Leber!*
Die Unterscheidung zwischen Herz und Geist in unserer Kultur reicht weit in die hellenistische Periode zurück, die ihrerseits konkurrierende cardiozentrische und cerebrozentrische Einflüsse übernahm. In den 1930er Jahren argumentierte C.G. Jung – meiner Ansicht nach zu Recht – dass wir Abendländer genau aus diesem Grund nicht in der Lage seien, Yoga erfolgreich zu praktizieren, eben weil wir an diese Unterscheidung zwischen Herz und Geist glauben. So lange dieser Widerspruch nicht aufgelöst sei (was Jung geradezu für unmöglich hielt)**, kann ein Westler nicht erfolgreich im Yoga sein (dies gilt offenkundig im breitesten Sinne).
Erforschen wir nun die logische Schlussfolgerung, warum Herz und Geist ein- und dasselbe sind. Zunächst einmal bedeutet es, dass emotionale Zustände oft mit einem unbewussten Gedanken oder Gedanken-Muster verknüpft sind. Wenn wir aus unserem natürlichen Zustand in einen kontrahierten Zustand gezogen werden, werden wir dazu erzogen, die Realität auf eine bestimmte Weise zu betrachten, die wiederum eine bestimmte Stimmung hervorruft, auch wenn dies unbewusst geschieht. Eine Stimmung nicht zu mögen, oder sich selbst wegen einer Stimmung nicht zu mögen – auch wenn es die schwärzeste Depression, fürchterliche Eifersucht oder was auch immer ist – lässt uns die Zeichen nicht erkennen, durch die unsere natürliche Intelligenz uns signalisiert, dass Selbstreflexion erforderlich ist. Die Natur handelt immer aus einem Grund, und daher fordert uns jegliche Form von Unbehagen auf, zu reflektieren. (Das bedeutet keinesfalls, dass jeder noch so furchtbare Zustand in dem du dich befinden magst, „verdient“ sei. Solche Gedanken sind eine subtile Form von Selbsthass. Es bedeutet auch nicht: „Das Universum will mir etwas zeigen“. Diese Form der Nutzung des Begriffs ‘Universum’ steht oft synonym für eine Art jüngstes Gericht eines dualistischen Herrschergottes unter anderem Namen.)
Wenn wir nachforschen, gnadenlos ehrlich und radikal aufrichtig mit uns selbst sind, werden wir zumeist herausfinden, dass unser schlechter Tag (Woche, Monat, Jahr) durch ein entmächtigendes oder zynisches Gedanken-Muster entfacht wurde, das wir vielleicht zunächst kaum bemerkt haben. Das wir dann aber geglaubt haben, aus dem wir eine Story gesponnen haben, ein Bild der Realität geschaffen haben, das unsere natürliche Fähigkeit zu Freude und Freiheit untergraben hat. Nichts kann uns unsere Lebens-Energie (prāṇa-śakti) schneller und effektiver entziehen, als eine wohl-gesponnene Geschichte (vikalpa), die nicht mit der Realität übereinstimmt. Das Problem ist, wir wissen oft gar nicht, dass es sich um Geschichten handelt. Genauer gesagt, je mehr die erdachte Geschichte mit unserem allgemeinen Bild über die Realität übereinstimmt (unsere Ängste in Bezug auf die Wirklichkeit), umso weniger sind wir uns dessen bewusst. Wir müssen solche Stories durch Selbstreflexion aufspüren. Die meiste Zeit über geht es um Variationen des grundlegenden Themas, das uns der Präsenz entreißt: „Ich bin ein separates getrenntes Wesen mit Namen XY“.
Sehen wir uns auch die andere Seite der Medaille an: Gedanken hängen oft mit verborgenen Emotionen zusammen. Ich (Hareesh) bin ausgebildeter Akademiker und in der akademischen Welt werden wir dazu angehalten, „objektiv“ zu sein. Daher neigen gerade Akademiker und Intellektuelle dazu, ihre intellektuellen Interessen auf eine Weise auszudrücken, als würden diese in einem Vakuum existieren, abgeschnitten von Gefühlen, Menschlichkeit und der eigenen Lebensgeschichte. Aber nichts existiert in einem Vakuum, und wenn du einen Akademiker näher kennenlernst (besonders in meinem Fachgebiet der religiösen und kulturellen Studien), wirst du entdecken, dass seine spezifischen intellektuellen Projekte in Wahrheit eng mit seiner Lebensgeschichte, seiner Psyche und emotionalen Landschaft verknüpft sind. Wenn man die Kräfte ignoriert, die unseren jeweiligen Standpunkt beeinflussen, führt das aufgrund fehlender Transparenz zu geringerer Objektivität. Ich glaube, dass eine derartige Heuchelei oder Vortäuschung [von vermeintlicher Objektivität] in der akademischen Welt unsere intellektuellen Projekte beeinträchtigt, und unserer Psyche schadet.
Bist du ein sogenannter Kopfmensch, also eher rational als emotional veranlagt, hast du nun zum besseren Verständnis der Verbindung zwischen Gedanken und Emotionen ein Werkzeug zur Verfügung: Nimm wahr, welche Meinungen und Sichtweisen – die zunächst leidenschaftslos erscheinen mögen – du vehement vertrittst; und spüre ihnen nach bis zu einem Ort deines Seins, an dem sie als reine Emotionen existieren. Zum Beispiel hast du eine klare Auffassung darüber, was „Gerechtigkeit“ oder „Fairness“ angeht. Ich möchte wetten, wenn du diese abstrakten Begriffe bis zu ihren zugrundeliegenden Emotionen hin verfolgst, entdeckst du vielleicht unterdrückten Ärger über Zeiten, in denen du ungerecht behandelt wurdest. Finde es heraus und setze die innewohnenden Kräfte frei. Und wenn du das tust, bewegst du dich gar nicht groß von einem Zentrum zum anderen (vom intellektuellen Geist (mind) zum emotionalen Herzen), sondern du deckst die versteckten Fäden der subtilen Strukturen des Geistes auf, die größer sind als du zuvor angenommen hast.
Falls du ein sehr emotionaler Mensch bist, sollte dir klar sein, dass deine Gefühle und samskāras dich dazu zwingen Meinungen zu vertreten, die möglicherweise nicht wahr sind, und du solltest dich bemühen, das innerlich zu kompensieren, indem du dir dessen bewusst wirst. Nur weil du das Gefühl hast, etwas sei wahr, muss das nicht wirklich stimmen. Gib dir einen Ruck und gestehe dir ein, dass es vieles gibt, dass du nicht weißt, und suche nach Fakten und Beweisen.
Zusammengefasst existieren Gedanken und Gefühle als ein Kontinuum, in dem der „Gedanken-Anteil“ durch seinen Wortreichtum definiert wird, wobei seine Rationalisierung teilweise zu einer Abschwächung der vollständigen Charge/Befrachtung eines gegebenen bhāva (Gefühl, gefühlsmäßige Wahrnehmung, Stimmung/Atmosphäre (vibe), mental-emotionaler Zustand) führt; während der „Gefühls-Anteil“ definiert wird durch das Fehlen von Begriffen, Worten und Optik der gesamten Charge/Befrachtung von Energie in eben jenem gegebenen bhāva. Wenn wir die fühlende Komponente in einem Gedanken entdecken, oder auch den Gedanken hinter einem Gefühl, bringen wir die Gesamtheit der konzentrierten subtilen Struktur unseres Energie-Körpers in unsere volle Aufmerksamkeit. Dies hilft, die wahre Natur des Gefühl-Gedankens (bhava) aufzudecken und damit auch seinen Einfluss auf unsere Realität.
Herz-Geist und spirituelles Herz
Kommen wir nun zum letzten Faden in diesem ganz speziellen Gewebe. Im Sanskrit gibt es außerdem die Vorstellung eines metaphysischen/spirituellen Herzens, „hṛdaya“ welches sich von „citta“, dem Herz-Geist unterscheidet. Nun gibt es im Sanskrit keine Groß- und Kleinschreibung, woher wissen wir also, welches gemeint ist, das Geist-Herz (heart-mind/citta), oder das spirituelle Herz (hṛdaya)? Die Präzision eines Begriffes wird im Sanskrit häufig dadurch gegeben, dass (im textlichen Umfeld) synonyme Begriffe angeboten werden. hṛdaya steht dann für das spirituelle Zentrum, wenn es begleitet wird von sāra (‘Essenz, Kern, Herzstück’), madhya (‘Zentrum’), svabhāva (‘wahre Natur’), ātman (‘Selbst’), oder ähnlichem.
Welche Wahrheit verbirgt sich also hinter dem nahen Feind der Wahrheit, in diesem Fall „Hör auf dein Herz“? Herz steht hier für das tiefste Innere deines Seins, das weit über Gedanken und Gefühle hinaus geht.
Die intuitive Weisheit, die aus dem Herzen, der Mitte, dem Kern entspringt, nennen wir in der tantrischen Denkweise pratibhā. Es ist eine Art tiefes inneres Wissen, eine Ahnung woher der Wind weht (oder wehen will), ein Spüren wohin die Ströme des Lebens dich führen möchten. Es ist schwer dies in Worte zu fassen, auch wenn ich es hier ebenso versuche, wie in meinem Buch „Tantra Illuminated“. Diese innere Weisheit dient immer auf die eine oder andere Weise dem Wohle aller Wesen. Darin unterscheidet sie sich von den Wünschen des Herz-Geist, die sich normalerweise nur am persönlichen Wohl orientieren. Daher wird dich die innere Weisheit nicht unbedingt zu dem führen, was du auf oberflächlicher Ebene begehrst. (Wie auch immer, durch spirituelle Praxis können Herz-Geist und innere Weisheit in Einklang kommen, citta verschmilzt mit pratibhā. Dann wird das was du willst zu dem, was das Leben will!)
Während pratibhā beständig ist, langsam und unaufhaltsam (z.B. zieht es dich unaufhaltsam hin zu oder weg von einer Person in deinem Leben, oder einer bestimmten Karriere, o. ä.), so sind die Wünsche des Herz-Geist launenhaft und wandelbar. Herz-Geist drückt sich gerne als endlose Gedankenschleife aus, z.B.: „Vielleicht sollte ich dies tun, oder doch lieber jenes!“ Dagegen ist pratibhā eine wortlose unterschwellige Strömung. Das was Rumi bezeichnet als: „die seltsame stille Anziehungskraft von etwas, das du wahrhaft liebst“. Hier ist dein wahres Du gemeint, nicht das kulturell konditionierte du von dem du glaubst, es zu sein.
Weiter oben sage ich, dass ein Yogi (oder ein Mensch mit gesundem Menschenverstand), der sich darum bemüht, eine weise Entscheidung zu treffen, alle Aspekte seines Seins befragen und gleichermaßen berücksichtigen wird. Hast du aber nach ausreichender spiritueller Praxis einen klaren Zugang zu pratibhā, wird dieser ganz natürlich zum entscheidenden Schiedsrichter, und das führt zu einer Lebens-Erfahrung von Harmonie. Denn alle inneren Unstimmigkeiten werden selbsttätig aus einem tiefen inneren Wissen heraus gelöst, dem wissenden Gespür für das was richtig ist, und das ist weder ein Gedanke, noch ein Gefühl oder ein Impuls.
Das grundlegende Thema ist also: Geht es um die Aufforderung „Hör auf dein Herz“, versagen die meisten Menschen darin, zwischen der emotionalen Seite des konditionierten Selbst, und der stillen, wortlosen Intuition ihres tiefsten Seins (welches über Emotionen und Gedanken hinaus geht) eine klare und notwendige Trennung zu ziehen. Das Versäumnis, diese essenzielle/maßgebliche/grundlegende Unterscheidung zu machen ist verständlich, denn ohne ein kontemplatives und/oder meditatives Leben kann man pratibhā nicht wirklich erfassen. Wenn du nicht zur inneren Ruhe findest, kannst du die innewohnende intuitive Instanz (die von Konditionierung nicht beeinflusst ist) weder hören, noch fühlen. Du kannst diese Intuition nicht von den schnell wechselnden Gezeiten der Emotionen unterscheiden.
Aufgrund des großen Interesses … mehr zu pratibhā
Pratibhā, gefeiert als die höchste Instanz des Bewusstseins in Vers 1.2 der Schrift Tantrāloka, bedeutet gleichzeitig intuitive Erkenntnis, natürlicher Instinkt und kreative Inspiration. Es ist die Instanz, die an die Stelle der vikalpas (Konditionierungen) tritt, indem sie die Handlungen eines erwachten Wesens leitet. Mit anderen Worten, jemand, die/der sich von sozialen und kulturellen Konditionierungen befreit hat, würde ohne solide Grundlage zur Entscheidungsfindung ziellos dahin treiben; wäre nicht die Tatsache gegeben, dass solch eine Freiheit mit einem wesentlich leichteren Zugang zu jener tiefen non-verbalen intuitiven Instanz einhergeht, die wir alle haben – aber nur wenige von uns sind still genug, sie wahrzunehmen. (Denn du musst in der Lage sein, ruhig und still zu lauschen, nur selten ist sie durch das Dröhnen des zwanghaft denkenden Geistes überhaupt hörbar.)
Im Gegensatz zu der Stimme des Geistes verteidigt sich die Stimme von pratibhā nicht, sie erklärt und rechtfertigt sich nicht, sondern bietet sich schlicht als Gabe an. Das fühlt sich ganz deutlich anders an als irgend eine Laune oder Vorliebe. Manchmal ist es nur ein kleines leises „Ja“ oder „Oh, oh“, tief im Inneren, und manchmal erkennt man es erst rückblickend. Zu anderen Zeiten fühlt es sich wie eine tiefliegende Unterströmung an, so kraftvoll wie ein langsam fließender mächtiger Fluss, eine beständige sanfte Anziehungskraft hin zu etwas, das mit deiner Essenz-Natur in Einklang ist und mit dem großen Muster des Lebens übereinstimmt.
Folgt man dieser Anziehungskraft umgehend, fühlt sich das richtig an – obwohl es sich nicht unbedingt falsch anfühlt, ihr nicht zu folgen –, nur eben weniger richtig. (Obwohl, wenn die Messlatte hoch genug angesetzt ist, und der Mensch sehr intuitiv ist, wird sich ein Handeln entgegen pratibhā ganz außerordentlich falsch anfühlen, sogar ziemlich mies.) Folgst du pratibhā in allen Belangen, so wird sich dein ganzes Leben durchdrungen vom Flow anfühlen (auch dann, wenn Herausforderungen auftreten), weil du mit dem großen Ganzen in Einklang bist.
Denn pratibhā ist vergleichbar mit einem Kompass der den natürlichen Flow des großen Bildes wahrnimmt, es ist eine solidere Basis für Handlungen, als unsere enge, provinzielle, vergängliche, willkürliche und eigentümliche kulturelle Konditionierung. Denn das Muster des großen Ganzen – pratibhā ist als eine Manifestation davon mit diesemverbunden – bewegt sich ganz natürlich und stets in Richtung Harmonie. Der tiefsten inneren Intuition zu folgen ist immer die Route, die allen Wesen am meisten dient.
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* Vgl. den faszinierenden Artikel “Culture and language: looking for the ‘mind’ inside the body” von Sharifian et. al., 2008.
** „Studiere Yoga: Du wirst unendlich viel daraus lernen; aber versuche nicht es anzuwenden, den wir Europäer sind einfach nicht dafür ausgelegt, diese Methoden korrekt anzuwenden.” ~ C.G. Jung
Was sind „nahe Feinde der Wahrheit“? In Anlehnung an den Buddhismus verwende ich diesen Ausdruck, um leicht verzerrte Versionen spiritueller Lehren zu bezeichnen. Auf Aussagen, die wesentlichen und subtilen Wahrheiten ziemlich nahe kommen, aber dennoch knapp daneben liegen, was auf lange Sicht gesehen zu großen Unterschieden führt. Wenn wir über tiefgreifende und grundlegende Wahrheiten sprechen, so machen Äußerungen, die „ein bisschen falsch“ sind, kurzfristig betrachtet keinen großen Unterschied, wohl aber auf lange Sicht. So wie eine kleine Kursabweichung deines Bootes auf kurzen Strecken zunächst unerheblich ist, dich aber nach einigen tausend Meilen auf einen anderen Kontinent bringt.
Manche Menschen lehnen das Wort „falsch“ im vorigen Absatz ab. Diese Leute sind der Meinung, dass das einzig notwendige Kriterium für die Wahrheit darin besteht, dass es sich für einen selbst wahr anfühlt. Diese Sichtweise ist in Bezug auf Spiritualität ebenso gefährlich wie in der Politik. Denn dahinter steht zumeist: Ich will, dass es wahr ist, also glaube ich es – egal wie die Fakten sind. Wenn du nicht erkennst, wie brisant dieses Thema ist, oder wenn du zweifelst, ob es überhaupt Fakten oder universelle Wahrheiten gibt, lies bitte die zweite Hälfte des ersten Blogbeitrags (nahe Feinde #1) und den unten angefügten Nachtrag.
Für jeden spirituell Suchenden ist es enorm wichtig zu erkennen, warum es sich um nahe Feinde handelt, und nicht um die Wahrheit selbst, wenn er/sie über den Status eines Anfängers hinauswachsen will, um tief in die (überaus erfüllende) spirituelle Arbeit einzutauchen. Dabei ist zu beachten, dass ein Beinahe-Feind, wenn er nahe genug ist, ein vorübergehender Verbündeter für einen Anfänger sein kann. Aber auf einem höheren/tieferen Level spiritueller Praxis gibt es kein „nahe genug“ mehr. Wenn du deine bequemen und wohlgefälligen Selbstbeteuerungen nicht auf dem Altar der Wahrheit opferst, wird dein Fortschritt stagnieren. Nach dieser kurzen Einführung, lass uns auf den nächsten nahen Feind der Wahrheit schauen.
© Christopher Hareesh Wallis, August 2017 · Englischer Originalartikel hier!
Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 09.2020 von: Brigitte Heinz · Lektorat: D.M. · überarbeitete, vorläufige Neufassung 02.2022